Theorie der Sehkraft. Oder:

Wie in der Kunsthalle eine „Polnische Avantgarde 1930–1990“ vorgeführt wird, die es so nie gab  ■ Von Piotr Olszowka

Diese Ausstellung hätte das alles sein können, was sich der polnische Außenminister im Grußwort des Katalogs von ihr verspricht: eine Brücke der Verständigung, eine Chance, die polnische Kunst in Deutschland repräsentativ zu zeigen. Der Aufwand war gewiß erheblich.

Irreführend ist schon der Titel: „Polnische Avantgarde 1930–1990“. Es entsteht der Eindruck, von mehreren Beiträgen und Aussagen im Katalog gestützt, daß man es hier mit einer repräsentativen Auswahl polnischer Kunst einer bestimmten Richtung, nämlich der jeweils avantgardistischen, zu tun habe. Die Willkür einer jeden Auswahl mag sich legitimieren können, allerdings sollte sie auch als solche deklariert werden. Tatsächlich ist die Ausstellung in der Kunsthalle an der Budapester Straße, ausgerichtet vom NBK, eine Selbstdarstellung des Muzeum Sztuki in Lodz und seiner Schützlinge. Sie ignoriert gänzlich diejenigen Künstler, die mit dem Museum weniger gute Verbindungen haben.

Gewiß sind immer Zugeständnisse nötig, wenn man von einem Museum Werke herausragender Bedeutung bekommen möchte. Eine Ausstellung deswegen in Konzeptionslosigkeit zu stürzen, ist dennoch ein zu hoher Preis.

Die Autoren der Ausstellung verzichten auf so wichtige Künstler wie Henryk Berlewi, Jonasz Stern, Maria Jarema – alle drei herausragende Persönlichkeiten, auch im internationalen Maßstab, die die rekonstruierbaren Kriterien der Ausstellung – Gegenstandslosigkeit, Reduktion, Rationalismus – beispielhaft erfüllen. Auch die hervorragenden Vertreter der Gegenwartskunst, die in Peter Funkens Präsentation „Positionen Polen“ im letzten Jahr im Künstlerhaus Bethanien teilgenommen haben – Leon Tarasewicz und Jan Tarasin–, werden nicht einmal erwähnt. Und daß, obwohl Funken auch bei der „Avantgarde“-Ausstellung zu den Kuratoren gehört.

Was heißt hier eigentlich „Avantgarde“? Die Zeit der Avantgardekunst ist um 1930 vorbei, die wichtigsten Theorien, Aktionen, Ausstellungen, Veröffentlichungen und Werke sind zu dem Zeitpunkt Geschichte. Die Künstler und Werke, die dieser heroischen Zeit folgen, sind bestenfalls Erben eines „Avantgardestils“ (in sich schon ein widersprüchlicher Begriff), schlimmstenfalls Epigonen. Und wenn gegenstandslose Kunst die Avantgardekunst der zwanziger Jahre nachahmt oder ihr ähnlich ist, dann ist sie um so weniger Avantgarde. Seit – und das erkennen die Autoren der Ausstellung richtig – auch in Polen das anything goes gilt, ist Avantgarde so oder so unmöglich.

Wem sollte wer folgen in der neuen Kunst, und wieso? Eine dynamische Bedeutung der Avantgarde, die nicht auf einen Stil fixiert ist, müßte Künstler des Rangs von Kantor, Szaposznikow, Abakanowicz, Szajna und Hasoir in die Ausstellung einbeziehen. Dann könnte man den Satz Jaromir Jedlinskis in seinem Katalogbeitrag nachvollziehen, daß es hier um das sich Besserverstehen im Anderssein gehe. Diese Ausstellung ist jedoch vielmehr auf Homogenität mit dem konzipiert, was in Deutschland leicht verdaulich ist. Vom Katalog erfährt der Leser nichts über die Rolle der Avantgardekunst in der polnischen Kunstgeschichte der letzten sechzig Jahre. Gerade das wäre jedoch für das deutsche Publikum von Interesse, weil der Kontext vollkommen anders ist als im Westen und sich auch von anderen „Ostblockländern“ grundlegend unterscheidet. Die Rolle der Widerstandskunst spielte die polnische Avantgarde nur in der Zeit des sozialistischen Realismus, als sie unterdrückt wurde. In dieser Zeit malten Kantor, Stazewski, Jarema, Stern nur „auf Lager“, weil sie nicht ausstellen konnten. Wladyslaw Strzeminski und Katarzyna Kobro gingen 1951 und 1952 wegen der feindlichen Umstände physisch zugrunde. Seit 1956 etabliert sich jedoch im Lande die gegenstandslose Kunst, Professuren und wichtige Ausstellungen werden ihren Vertretern zugeteilt. Einige herausragende Künstler (dazu gehören auch die meisten in der Kunsthalle gezeigten) bekommen massiven Nachwuchs und werden nicht nur geduldet, sondern auch gefördert. Über diese spezifische Situation erfährt der Besucher und Leser des Katalogs nichts, und auch nicht über die Auseinandersetzung mit der Avantgarde in Polen, die seit mehreren Monaten in der Öffentlichkeit des Landes stattfindet. Dabei ist entscheidend, daß die politischen Ansichten der klassischen Avantgarde, vor allem die Strzeminskis und Kobros, aber auch die Przybos, Peipers, zweifelsohne von der sozialen und politischen Utopie des Sozialismus nicht zu trennen sind. Dieser Umstand wird derzeit von erzreaktionären Kritikern gegen diese Künstler und gegen ihre Nachfolger insgesamt ausgespielt. Anstelle dieser wichtigen Auskünfte und Hintergründe werden uns Offenbarungen wie diese verabreicht: „Stefan Gierowski ist Maler im eigentliche Sinn: die Bildfläche war und ist sein Arbeitsfeld.“ (Inken Nowald) „Je weiter weg von den Gebieten der Kindheit, desto näher dem Ende“ (Maria Morzuch).

Neben den Meisterwerken Strzeminskis, Kobros und Stazewskis sind es die Arbeiten von Jaroslaw Kozlowski, die einen Besuch in der Kunsthalle lohnend machen. Fast möchte man sagen, daß, wenn eine Avantgarde noch möglich wäre, Jaroslaw Kozlowski zwar kein Papst, doch ein Priester dieser Kirche sein könnte. Er ist der einzige in dieser Gesellschaft, der eine Überschreitung der bisherigen Mittel vollzieht und auch auf der Seite des Betrachters Entdeckungen möglich macht. Kozlowskis Installation mit Ventilatoren sowie roten und grünen Lampen bringt den Betrachter in eine Art die Erkenntnis betreffende Verlegenheit: Ein ehrlicher Betrachter muß zugeben, daß sich in Gegenwart dieser Installation eine Frage aufdrängt nicht nach dem Sinn dieses Kunstwerks, sondern nach dem Sinn des Verstehens überhaupt.

Der bravouröse Katalogbeitrag Lucie Schauers versucht sich am Unmöglichen: die Auswahl der Künstler nach immanenten Kriterien zu begründen. „Die Arbeit von Jaroslaw Kozlowski macht exemplarisch deutlich, worum es in dieser Ausstellung geht, weshalb gerade diese zwölf Künstler zusammengefaßt wurden (...) Er [Kozlowski] pirscht sich an das Schlachtfeld Wirklichkeit von seiten des Theoretikers, des Denkers, ja letztlich des Philosophen heran und gewinnt an Boden durch die Visualisierung eines Ideenkonzepts.“ Leider stimmt in dieser logischen Figur nur die eine Hälfte: Der Satz trifft auf Kozlowski zu; weshalb einige der anderen elf ausgewählt wurden, kann man daraus keineswegs schließen. Durch eine Ausnahme kann die Regel nicht erklärt werden. Insbesondere, wenn es keine gibt.

Es scheint, daß für die Künstlergenerationen unterschiedliche Kriterien angewandt wurden, die Klassiker der Avantgarde sind qualitativ ausgesucht worden (die hervorragenden Arbeiten Strzeminskis und Kobros lasen sich von noch so mangelhaften Ausstellungskonzeptionen nicht kaputtkriegen); die Künstler der zweiten Generation, die mit Arbeiten vorwiegend aus den sechziger und siebziger Jahren anwesend sind, wurden teilweise nach dem Kriterium der Bekanntheit (Opalka, Winiarski), teilweise wegen ihrer Konformität mit den Neigungen deutscher Kunstfeinschmecker ausgesucht: bloß nicht allzu eigenwillig, leicht präsentierbar, oft epigonenhaft (Gostomski, Krasinski, Sosnowski, Gierowski). Gegen den repräsentativen Charakter dieser Werke ist nichts einzuwenden, man wollte offenbar den Durchschnitt und nicht das Beste zeigen.

Selbst der beste Text im Katalog, der von Dieter Honisch, blieb von Sachfehlern nicht verschont: Die Wchutemas, eine der wichtigsten Kunstschulen des Jahrhunderts, entstand erst 1920, so daß Wladyslaw Strzeminski 1919 an der Schule nicht hat Student sein können; auch war Kasimir Malewitsch dort kein Lehrer. Die Ausreise der „progressiven Künstler“ wie Kandinsky mit der von Strzeminski und Kobro in einen Topf zu werfen, ist höchst problematisch: Schwierigkeiten Kandinskys in Rußland, vor allem im Inchuk (Institut der Künstlerischen Kultur), das er eine Zeitlang leitete, waren nicht Resultat seiner progressiven Ansichten, sondern vielmehr eine Folge der Konflikte seines „subjektivistischen und psychologistischen“ pädagogischen Programms für die künstlerische Ausbildung — in einem Sowjetrußland, in dem die objektivistischen und kollektivistischen Ansichten der damals noch sehr starken Konstruktivisten und Produktivisten dominierten.

Strzeminski und Kobro gerieten jedoch in Zwist mit Malewitsch in Vitebsk, zudem fühlte sich Strzeminski als Pole nach dem russisch- polnischen Krieg unter Druck. Dieter Honisch behauptet – und das ist eine sehr verbreitete Meinung –, Strzeminskis Unismus wäre eine Variante, eine Mutation des Suprematismus von Malewitsch. Das ist nicht so. Zwar haben wir in beiden Fällen mit Theorien der gegenstandslosen Kunst zu tun, und auch die Inspiration Strzeminskis durch Malewitschs „Suprematismus – die gegenstandslose Kunst“ ist offensichtlich, nur entwickelt er seine Vision der Malerei geradezu in einer theoretisch — aber auch was die „praktischen“ Folgen betrifft — entgegengesetzten Richtung zum Suprematismus. Weder die mystische Begründung der Gegenstandslosigkeit noch die Ontologie des Bildes stimmen bei den beiden Polen überein, Strzeminski ist ein strenger Rationalist, er zwingt seine Malerei in ein überaus vernünftiges Gerüst von Lemmata und deduktiven Schlußfolgerungen. Kein Wunder indessen, daß ihn seine eigene Theorie zum entropischen Tod des Bildes geführt hat, auf dem nichts mehr los ist. Der konsequente Unismus bedeutet ein Ende der Malerei: Das hat Strzeminski wenigstens in seiner Praxis erkannt, indem er sich anderen Experimenten wie zum Beispiel den „Nachbildern (der Sonne)“ widmete, in denen er praktisch seine physiologische Theorie der Sehkraft untersucht hat.

Daß eine konsequente Weiterentwicklung der reduktiven Kunst zu ihrem Tode führt, beweisen nicht nur polnische Künstler der sechziger und siebziger Jahre. Die lebenslange Fixierung auf einige wenige Grundsätze oder gar auf einen Gag muß nicht unbedingt von einer besonderen Standhaftigkeit zeugen, oft beweist sie nur die Ohnmacht des Künstlers angesichts der schwierigen Wahl zwischen dem Beharren auf dem Dogma der „Avantgarde“, die sich selbst in eine Sackgasse getrieben hat, und einer Rückkehr zur konventionellen Kunst. Logisch gesehen, ist das ständige Verneinen, zu dem sich die immer neuen „Avantgarden“ verpflichtet fühlen, eines Tages das Ende.

Zu behaupten oder auch nur zu unterstellen, daß 1990 genauso wie sechzig oder siebzig Jahre früher die Konstruktivisten oder die geometrisch-gegenstandslosen Künstler eine Avantgarde stellten, wäre absurd – vielmehr sind sie mit der Zeit akademisch geworden, bilden das eigentliche Establishment der Kunst. Die einzige Bedeutung, die hier angewendet werden kann, ist, daß Avantgarde-Kunst eine Stilrichtung darstellt: gegenstandslos, nichtfigurativ, rationalistisch. Dies wäre jedoch ein Offenbarungseid für den Benutzer dieses Begriffs.

Was die Geschichtsschreibung der polnischen Avantgarde im Katalog betrifft, sind mir die Ausführungen von Honisch über den Zusammenhang mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) keineswegs einsichtig. Es ist richtig, daß der neuentstandene Kunstmarkt nicht an den avantgardistischen Werken und Experimenten interessiert war. Es waren jedoch keineswegs die durchaus liberalen Grundsätze der NÖP, die die Avantgarde bedrohten, und auch ist die Zeit der NÖP gar nicht schlecht für die konstruktive und produktivistische Kunst gewesen. Zwar formierten sich parallel zu den avantgardistischen auch die reaktionären Kräfte, sie blieben jedoch zumindest bis Mitte der zwanziger Jahre in der Defensive, und erst nach der NÖP, mit Verkündung des ersten Fünfjahresplans, haben sie Oberhand gewonnen. Diese Präzisierung ist schon bedeutend, weil die NÖP eine Art Kapitalismus war, also zur späteren Planwirtschaft im krassen Gegensatz stand. Zwar war die Grundstimmung in beiden Perioden konservativ, doch der Konservatismus der Kunstkonsumenten in der NÖP-Periode war ohne kulturpolitische Bedeutung, weil offiziell bekämpft, und insofern für die Avantgarde sogar indirekt nützlich.

Alle diese Mängel, Fehler und Verstellungen der Perspektive sind insofern ärgerlich, als die osteuropäische Kunst im gewissen Sinne weitgehend ungeschützt dasteht: Wenn jemand die Nürnberger Gesetze auf 1939 datieren würde oder die Berliner und die Zürcher Dadaisten durcheinanderbrächte, wäre es für den Autor disqualifizierend. Über die osteuropäische Kunst kann man aber den gröbsten Unfug behaupten und ist allemal ein verdienter Aufklärer, leistet einen Betrag zur Verständigung zwischen den Völkern. Bis die Beziehungen in Europa sich tatsächlich „normalisieren“ und die universitäre Kunstgeschichte in Deutschland auf dem osteuropäischen Auge nicht mehr blind sein wird.

„Polnische Avantgarde 1930–1990“. Eine Ausstellung des NBK (mit dem Museum Sztuki/ Lodz) in der Kunsthalle. Bis 24.1. 1993, täglich außer Mo 10–18, Mi bis 22 Uhr. Katalog 30DM.