„Großer Preis“ ohne Big Wim: Riiiiiisiiiiiikoooooo!!!!

■ Thoelke tritt heute ab, die Ära Kuli soll am 9.1.'93 beginnen

Am 10. September 1970 strahlte das ZDF zum erstenmal seine Show-Minitalk-Quizz-Lotteriesendung „Drei mal neun“ aus. Ein neuer Moderatorstar war damit geboren. Georg Heinrich Wilhelm („Big Wim“) Thoelke, Miterfinder des „Aktuellen Sportstudios“, übernahm die Aufgabe, bis zu 70 Prozent des damaligen TV-Publikums für einen wohltätigen Zweck durch den Donnerstagabend zu bringen. Im Januar 1974 trat der Parapsychologe Uri Geller bei Thoelke auf und ließ zur Überraschung harmloser Fernsehzuschauer in den Wohnstuben die Löffel sich verbiegen. Auch das Bild auf dem Fernsehapparat meiner lieben Eltern verbog sich und entschwand ins grauschwarze Nichts.

„Kein Bild, kein Ton, wir kommen schon“, lautete der damalige Slogan der Fernsehtechniker. Da die Kiste jeden Abend lief, war das Abholen des Apparates ein intimer Eingriff in die Familiensphäre wie eine unangenehme Untersuchung beim Arzt. Der Fernsehtechniker war auch ein Uri Geller. Bei jeder Reparatur installierte er eine „kalte Lötstelle“, die nach wenigen Wochen aufbrach, so daß er die Kiste wieder für teures Geld abholen konnte.

Der Durchbruch kam, als das ZDF 1974 sein Konzept änderte. „Der große Preis“ trat an die Stelle von „Drei mal neun“. Die multimediale Monitorwand läutete, sobald ein Kandidat „Risikooo“ getippt hatte, mit ihren futuristisch- zischenden Klängen ein neues multivisionales TV-Zeitalter ein. Das war wie „Raumschiff Enterprise“ zum Anfassen.

Meine Eltern hatten einen neuen Fernseher. In Farbe. Der konnte dank der neuen „Modultechnik“ an Ort und Stelle zu Hause „ambulant“ repariert werden. Der Apparat ging darauf in der Tat seltener kaputt, lief mehrere Jahre, es kam niemand mehr in unsere Wohnung. Der Apparat wurde nur von „Der große Preis“ überlebt, denn der läuft bis heute.

Gleich in der ersten Sendung gab es einen Skandal. Gemäß dem Spielprinzip gewinnen die Kandidaten auf Befragung ihres Spezialgebietes in der ersten Runde ein Kapital, mit dem sie in der zweiten Runde „arbeiten“ können. Als die Kandidaten jedoch am Ende der dritten Runde alles verspielt hatten und mit hängenden Gesichtern leer ausgingen, murrte das Volk! Das Konzept wurde unmittelbar geändert; fortan blieb das Kapital der ersten Runde Eigentum des Kandidaten. Das Publikum konnte aufatmen.

„Der große Preis“ stammt aus einer Zeit, in dem das Publikum noch vor dem Respekt hatte, was der Historiker heute als „Wissen“ bezeichnet. Mit atemloser Spannung verfolgten meine Familie und ich, wie am Schluß die Kandidaten in ihren schalldichten Raumkapseln durchs Weltall der Fragen segelten und mit der richtigen Antwort gerade noch so zurück auf die Erde fanden. Tina erzählte gestern abend bei „Rocco“, daß ihre Mutter stets sauer war, weil ihr Vater immer alles wußte und jedes exotische Bild schon beim Einblenden des ersten Mosaikfitzelchens erkannte – obwohl man nie verreist war und er angeblich nie las.

Statt von Wissen, vor dem sich Thoelke als Moderator immer respektvoll verneigte, sind die fernsehschauenden Menschen heute von einem McDonald's und Haribo fressenden Milchgesicht mit Botticellilöckchen begeistert, das alle mit naßforschen Sprüchen einschüchtert. Wo Thoelke das Wissen noch diskret und andächtig vertreten hat (wie ein Schiedsrichter das Fußballspiel), wird es von Gottschalk als Repräsentant einer neuen Showmaster-Generation schlicht usurpiert. Während bei Thoelke gemäß den einzelnen Wissensgebieten die individuelle Verschiedenheit der Kandidaten das Spektakuläre war, ist Gottschalks Attraktion die, sich alle vermeintlichen Individuen mit einem deftigen Spruch untertan zu machen: Vor Gottschalk sind alle gleich (wertlos).

So nehmen wir denn heute nach fast zwanzig Jahren Abschied von unserem telegenen Verwandten Wim Thoelke, der wie kaum ein anderer die nationalen Wohnstuben der Erinnerung bebildert hat. Das ZDF entledigt sich seiner ähnlich pietätlos wie der Großteil der Bevölkerung, der seine alt gewordnenen Verwandten, nachdem sie krank waren und entsprechend schlecht aussehen, aus dem Blickfeld ins Altersheim abschiebt. Das hat Thoelke nicht verdient. Auch wenn er nicht mehr gewohnt rosig aussieht wie Wirtschaftswunder. Schließlich hat er den Postboten „Herrn Sparbier“ auch noch die Lose ziehen lassen, als der schon gar nicht mehr wußte, wo er eigentlich ist.

Mit insgesamt ca. drei Milliarden Mark Reinerlös ist „Der große Preis“ einerseits die erfolgreichste Benefizsendung aller Zeiten. Andererseits ist sie eine mächtige Säule der ZDF-Unterhaltung. Ob Kuhlenkampff, der noch älter ist als Thoelke und schon vor was weiß ich wieviel Jahren einen senilen Abgang aus dem Business hatte, Thoelkes Linie fortführen kann, bleibt fraglich. Wim jedenfalls nimmt Abschied auch von Wum und Wendelin. Demnächst wird er ein Seniorenradio aufziehen: „50 Plus“. Manfred Riepe