Eine geschlossene Anstalt

Peter Finkelgruens „Haus Deutschland“: Geschichte eines perfekten Mordes mit deutscher Hilfe  ■ Von Henrik M. Broder

Ein Autor wechselt vom Chronisten zum Detektiv und recherchiert die Geschichte eines ungesühnten Mordes. Es ist ein perfekter Mord, weil er „auf offener Bühne vor den Augen aller begangen“ wurde, der Täter ist bekannt, er wurde sogar vernommen, bleibt aber unbehelligt und verbringt seinen Lebensabend in einem ordentlichen Altersheim. Der Enkel des Ermordeten stellt Nachforschungen an, gräbt Akten aus, überlegt sich, ob er der Gerechtigkeit auf eigene Faust nachhelfen soll, läßt es sein und schreibt statt dessen ein Buch: „Haus Deutschland“. Der Titel hat mehr als symbolische Bedeutung. Zum einen ist es das Dach, unter dem die Täter und deren Opfer zusammenleben, ohne sich der gruseligen Absurdität der Situation bewußt zu sein, zum anderen war es ein Haus gleichen Namens in Karlsbad, in dem Juden Zuflucht gefunden hatten, die in Deutschland ihres Lebens nicht mehr sicher waren, unter ihnen der Kaufmann Martin Finkelgruen, der sich am 31.Januar 1938 in Berlin abgemeldet und als Zielort „auf Reisen“ angegeben hatte.

Peter Finkelgruen, 1942 in Shanghai geboren, setzt in seinem Buch aus Briefen, Aktenstücken, Bildern und Erzählungen von Verwandten ein Puzzle zusammen, in dem nur wenige Stellen frei bleiben. Es ist das Leben seines Großvaters Martin, der 1876 in Berlin geboren und Ende 1942 in der Kleinen Festung Theresienstadt ermordet wurde, nachdem die Nazis die Tschechoslowakei besetzt und die Juden, die vor ihnen geflohen waren, wieder unter ihre Obhut gebracht hatten.

Daß der Großvater keines natürlichen Todes gestorben war, das hatte sein Enkel schon immer gewußt. Wie er vom Leben zum Tode befördert wurde, das erfährt er von Tante Bela, die er im Februar 1989 in einem Prager Altersheim besucht. Die 90jährige kann sich an die Umstände der Tat und den Täter genau erinnern. Der Aufseher M. schlug so lange auf Martin Finkelgruen ein und trampelte auf ihm rum, bis der Gefangene tot war. „Vor diesem Schläger haben wir alle Angst gehabt, man nannte ihn den schönen Toni“, sagt Tante Bela.

Zufall oder höhere Fügung: Finkelgruen fällt ein, daß er den Namen des ehemaligen Aufsehers in Theresienstadt vor kurzem in der Zeitung gelesen hat. Auf der Reise von Israel nach Deutschland war ihm in einer Zeitung, die er in Piräus gekauft hatte, eine Meldung aufgefallen: „Der 1948 in der CSSR als Kriegsverbrecher verurteilte Anton Malloth ist von Italien in die Bundesrepublik abgeschoben worden.“ Da in der Meldung die Rede davon ist, Malloth sei in Theresienstadt Aufseher gewesen, hebt Finkelgruen den Zeitungsausschnitt auf. Ein halbes Jahr später nennt Tante Bela denselben Namen. Peter Finkelgruen kramt den Ausschnitt aus der Ablage und macht sich auf die Suche nach dem mutmaßlichen Mörder seines Großvaters.

Großvater Martin wurde genau neun Monate und einen Tag nach der Geburt seines Enkels Peter in Theresienstadt erschlagen. Fünfzig Jahre später fährt Peter Finkelgruen mit dem Auto nach Karlsbad und überlegt sich, was er machen soll. Er phantasiert. Er sieht sich mit einem Plakat vor dem Haus von M. auf und ab gehen, „lebende Reklame für ein Reinigungsmittel namens Rache“. Soll er M. auf Schritt und Tritt folgen, oder soll er sich lieber eine Pistole besorgen und kurzen Prozeß machen? „Ich würde dem Mann, der meinen Großvater ermordet hat, auflauern und ihn erschießen. Würde ich ihm sagen, weshalb? ... Würde ich ihn vor anderen erschießen oder erst, wenn ich ihn ganz allein vor mir hätte?“ Er gibt aber alle Selbstjustiz-Phantasien auf und beschließt, sich „nach den Gesetzen dieses Landes“ zu richten, denn: „Dieses Land schuldet mir Recht.“

Im Vertrauen auf die Rechtstaatlichkeit der Bundesrepublik läßt sich Peter Finkelgruen auf eine argumentative Beziehung mit den Justizbehörden ein. Er erstattet Anzeige gegen M. bei der zuständigen Staatsanwaltschaft und stellt bei der Durchsicht von Akten der „Zentrallstelle ... für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen“ in Dortmund fest, daß diese Behörde den Mord an seinem Großvater bereits im Jahre 1979 aktenmäßig erfaßt hat. Als Fall 39 von 764 Fällen heißt es da, „ein alter Jude“ wäre in der „zweiten Hälfte des Jahres 1942“ im BlockA der Kleinen Festung Theresienstadt „erschlagen“ worden, und zwar von einem Mann namens „Malloth“. 1988 wurde M. von einem Staatsanwalt vernommen, es kam aber „mangels Tatverdachts“ zu keinem Verfahren.

Finkelgruen versucht, eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu erzwingen. Er legt die eidesstattliche Versicherung eines überlebenden Häftlings von Theresienstadt vor, die M. schwer belastet; der zuständige Staatsanwalt bleibt bei der Verneinung eines Tatverdachts. To cut a long story short: Im Februar 1992 bekommt Finkelgruen zwei Rechnungen über insgesamt 824DM – er soll die Kosten der von ihm initiierten Ermittlungen gegen M. tragen. In diese Geschichte eines Justizskandals, der da anfängt, wo die Ermittlungen aufhören, hat Finkelgruen die Lebensgeschichte des Anton M. eingebaut, eines Südtirolers, der 1939 die deutsche Staatsangehörigkeit annahm, um sich unter den Fittichen des Dritten Reiches eine sichere Zukunft zu bauen. Finkelgruen erzählt die Geschichte der Emigranten im Shanghaier Ghetto, wo er geboren wurde, von seinen Eltern und Großeltern. Wir lernen deutsche Beamte und Diplomaten kennen, denen es nicht nur eine Pflicht, sondern ein Vergnügen war, den Nazis zu dienen, und die sich nach dem Krieg als Widerständler gerierten, nur weil sie beim Hitlergruß die Stirn gerunzelt hatten. Finkelgruens Geschichte hat viele Facetten, so wie das „Haus Deutschland“ viele Fenster und Türen hat. Was sie so makaber macht, ist nicht mal das, was bis 1945 passiert ist, sondern die anschließende Rollenteilung zwischen den Tätern und den Opfern nach dem Ende der Verfolgung. Es sieht aus, als wäre es für die Killer ziemlich einfach, in die Normalität zurückzukehren, während den Verfolgten der Weg zurück mit Erinnerungen verbaut ist. „Ich will wissen, wie es gewesen ist“, sagt Finkelgruen an einer Stelle, an einer anderen beschreibt er einen „Versuch, festzustellen, wer ich bin“. Auch sein Buch ist eine öffentliche Übung in Sachen verlorene Identität. Daß er sich mit dem Mörder seines Großvaters auseinandersetzen muß, um zu sich selbst zu kommen, ist eine grausame Pointe der deutschen Geschichte, die Täter und Opfer unter einem Dach vereint. Und so ist auch das „Haus Deutschland“ eigentlich eine geschlossene Anstalt, in der Patienten, Therapeuten und Aufseher eine große Krankenfamilie bilden. Wie auch immer die Hausordnung aussehen mag, Ruhe wird in dieses Haus auf absehbare Zeit nicht einkehren.

Peter Finkelgruen: „Haus Deutschland“. Rowohlt Verlag, 171 Seiten, 28 DM