■ Die Gleichstellung muß erkämpft werden
: Eine Existenzfrage

Drei Türkinnen, Bahide Arslan, Ayshe und Yeliz, mußten erst in den Flammen der brandschatzenden Mörder umkommen, bis die Herren Kohl, Seiters, Gerster, Stoiber und andere davon abließen, die „Asyldebatte“ weiter am Kochen zu halten. Drei Menschen, die diesmal nicht Asylsuchende waren, sondern den hier auf Dauer lebenden sechs Millionen Nichtdeutschen angehörten, mußten Opfer der Neonazis werden, damit Zeitungen schreiben konnte, daß sieben Prozent der Beschäftigten in Deutschland Nichtdeutsche sind und daß sie acht Prozent des Bruttosozialproduktes produzieren, damit Fernsehanstalten mit ihren Bildern aus den deutschen Fabriken jedem noch so uninformierten Zuschauer zeigen konnten, daß Türken in Deutschland arbeiten und nicht schmarotzen.

Können wir, die über sechs Millionen Nichtdeutschen, aber deswegen wieder aufatmen, ohne Angst zu haben, angepöbelt, beschimpft, verprügelt, verletzt oder erstochen zu werden? Waren die ermordeten Türkinnen in Mölln unsere „Opfergabe“ an die Gesellschaft, damit wir in Ruhe gelassen werden? Meine Antwort auf alle diese Fragen ist leider Nein, und ich fürchte, die Opfer von Mölln waren nicht die letzten.

Doch niemand anders als wir selbst kann uns in dieser Situation helfen. Die Deutschen, die uns Nichtdeutschen gegenüber freundlich und aufgeschlossen gesinnt sind, können uns vor weiteren physischen Anschlägen des rechten Mobs nicht ernsthaft schützen, weil sie selbst nur eine kleine Minderheit darstellen. Auch Ignatz Bubis und die Juden in Deutschland werden nicht in der Lage sein, sich schützend vor uns Nichtdeutsche zu stellen. Die Juden in Deutschland haben zu Recht erkannt, daß ihr Schicksal sehr eng mit dem der Nichtdeutschen verknüpft ist. Nur wir Nichtdeutschen, die wir die Zielscheibe rassistischer Angriffe sind, haben offenbar noch nicht begriffen, daß wir selbst uns gegen den Rassismus behaupten müssen.

Wir stellen mit sechs Millionen Menschen eine beachtliche wirtschaftliche und politische Kraft in diesem Lande dar, sind aber auf der bundespolitischen Bühne nahezu abwesend. Unsere eigene Passivität und Lethargie schafft unverkennbar ein Vakuum in der deutschen Politik, das Ignatz Bubis instinktiv mit seinen Vorstößen zur Gleichstellung von Nichtdeutschen („die hier Geborenen sollen automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten“, taz vom 4.12.92) zu füllen versucht. Die 40.000 Juden in Deutschland werden jedoch hoffnungslos überfordert sein, auch die Rechte von sechs Millionen Nichtdeutschen durchzusetzen. Dies zu leisten ist die originäre Aufgabe von uns selbst. Nur wir selbst können das politische Vakuum füllen, indem wir unsere Zersplitterung und Einflußlosigkeit überwinden. Wir müssen umgehend damit beginnen, ein bundesweites Forum aller Nichtdeutschen zu schaffen.

Wir sind auf lokaler Ebene in Tausenden von Vereinen und Interessengruppen organisiert, kämpfen mühsam für kommunales Wahlrecht und werben um Verständnis bei den Deutschen. Wir übersehen jedoch, daß all das ein nutzloses Unterfangen ist, solange uns das Grundrecht, zu wählen und gewählt zu werden, vorenthalten wird. Es ist an der Zeit, für eine grundsätzliche Änderung unseres Status als Menschen zweiter Klasse zu kämpfen. Wir müssen deutlich machen, daß wir weder als Manövriermasse zwecks Manipulation der Volksmeinung zur Verfügung zu stehen bereit sind, noch als Blitzableiter der politischen Klasse und Sündenböcke für ungelöste soziale Probleme der Gesellschaft weiterhin herhalten möchten.

Es ist durchaus richtig, daß die kulturelle, politische und soziale Heterogenität und die auch teilweise unüberbrückbaren Gegensätze unter uns Nichtdeutschen ein großes Hindernis für ein gemeinsames politisches Handeln darstellen. Genau aus diesem Grunde dürfen wir auch nicht den Fehler machen, Erwartungen zu wecken, die wir nicht einlösen können. Die beispielsweise nationalistisch-fundamentalistischen Türken und die linken Kurden, die griechisch-orthodoxen Arbeiter und die türkischen Moslems, die rechten Kroaten, die linken Spanier, die türkischen Unternehmer und die portugiesischen Arbeiter trennen oft Welten. Diese Menschen, Vietnamesen, Tamilen, Araber, Iraner, Äthiopier und zahlreiche andere Nichtdeutsche in Deutschland verbindet jedoch das gemeinsame Schicksal der Diskriminierung und Absonderung. Daher wird unsere Bewegung auch, will sie erfolgreich werden, nur eine einzige Tagesordnung haben: Gleichstellung der Nichtdeutschen mit den Deutschen. Diese Rechtsposition wird uns niemals verliehen werden, sie kann nur erkämpft werden. Die Einbürgerung von Nichtdeutschen in der gegenwärtigen Form ist ein Gnadenakt und keine tragfähige und erst recht keine humane Lösung. Der Artikel 116 des Grundgesetzes muß dahingehend geändert werden, daß alle in Deutschland Geborenen und diejenigen, die hier seit einer Anzahl von Jahren leben, arbeiten und auch hierzubleiben beabsichtigen, die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben können. Wir müssen möglichst bald beraten, wie dieses Ziel verwirklicht werden kann. Wir müssen mit allen Kräften, die uns dabei unterstützen wollen, dankbar zusammenarbeiten: mit den deutschen Juden, die selbst Zielscheibe der antisemitischen Gewalt sind, mit anderen Minderheiten in der Gesellschaft, die genau wie wir selbst stigmatisiert und diskriminiert werden, mit allen Deutschen, die humane Ziele verfolgen.

Es geht um unsere nackte Existenz, es geht um die Überwindung eines Rechtsrelikts aus vergangenen Zeiten, es geht um den Anschluß Deutschlands an die Normen der Zivilisation. Mohssen Massarrat