Eine Welt, eine Bewegung

Durch die Übernahme fremder Bewegungskultur eignen wir „periphere Körperwesen“ uns selbst mehr Lebendigkeit an. Diese ist auch Voraussetzung für die Annahme des Fremden  ■ Von Peter Weinberg

Unser bewegtes Alltagsleben wird mehr und mehr angereichert durch fremde Bewegungskultur. War vor 40 Jahren noch das Schlagballwerfen eine typische Bewegungsform des „deutschen Jungen“, so haben heute Tai Chi, afrikanischer Tanz, Capoeira aus Brasilien, Bauchtanz aus der Türkei und viele andere Bewegungsformen Eingang in unser kulturelles Leben gefunden. Ist dies nur Ausdruck unreflektierter Inbesitznahme oder gar Kennzeichen kulturimperialistischer Aneignung anderer „Bewegungsreichtümer“? Auch. Aber doch steckt mehr dahinter und hat einiges mit den Themen unserer Tage – Fremdenfurcht und Ausländerhaß – zu tun.

Bei genauem Hinsehen entpuppt sich das „Fremde“ als unser eigenes Problem. Wir „im Westen“ und im industrialisierten Deutschland haben sehr viel an Beweglichkeit verloren. Wir leben körperlich desorientiert und bevorzugen schnelle Autos sowie das endlose Spiel am Computer. Beides Ausdruck dafür, daß wir unser Leben an das Leblose gebunden haben.

Doch der Körper holt uns wieder ein: Die Begegnung mit fremder Bewegungskultur ist in Wirklichkeit eine Begegnung mit uns selbst. In den Themen afrikanischer oder asiatischer Bewegungskultur werden menschlich-anthropologische Grundsachverhalte lebendig, die uns als „periphere Körperwesen“ längst fremd geworden sind. Wir bewegen uns fast auschließlich mit Armen und Beinen, der Kopf steuert nicht nur, er begleitet auch unsere Bewegungen.

Was uns hingegen fehlt, ist die Bewegung aus der Mitte des Körpers. Aus der Verbundenheit mit dem Boden und über die Herausforderung des variablen Gleichgewichts erwächst unsere Stärke. ZENtrierung ist zugleich Gelassenheit, bedeutet Abwarten, Zulassen, Fließen. Das Becken beweglicher machen heißt den Körper befreien (W. Reich).

„Bewegungskultur“ ist nun auch Thema unserer Sportkultur geworden. Sie wird als Alternative zur herrschenden Sportpraxis gedacht. Sportökologische Gegenwelt. Die Formel des „Scheller, weiter, höher“ wurde kontrastiert durch langsame, intensive und erlebnisorientierte Körper- und Bewegungserfahrungen. Es sollte zum Ausdruck kommen, daß der traditionelle Sport als Bewegungsantwort auf Industrie und Kapitalismus nicht mehr angemessen ist, um unsere heutigen Bewegungsprobleme lösen zu können.

Eine Bewegungskultur stellt gewissermaßen ein historisches und soziales Kontinuum in der menschlich-gesellschaftlichen und individuellen Bewegungsentwicklung dar. Die jetzige Entwicklung ist ein Kennzeichen dafür, daß fremde Bewegungs-Lebensmittel immer wichtiger werden, um den industriellen Entzug von Beweglichkeit (durch Werkzeuge, Maschinen, Roboter, Computer usw.) anthropologisch auffangen zu können. Bewegung ist der „Schlüssel“ zum menschlichen Leben (Ida Rolf). Bewegungskultur ist eine wesentliche Möglichkeit der Lebensgestaltung. So haben historische Bewegungsformen wie z.B. die oben erwähnten eine kulturelle Funktion in der Selbstorganisation des menschlich-gesellschaftlichen Lebens.

„Wollt ihr die Menschen bessern, so macht sie glücklich; wollt ihr sie aber glücklich machen, so geht an die Quellen allen Glücks, aller Feuden – an die Sinne. Die Verneinung der Sinne ist die Quelle aller Verrücktheit und Bosheit und Krankheit im Menschenleben; die Bejahung der Sinne die Quelle der physischen, moralischen und theoretischen Gesundheit.“ (Ludwig Feuerbach)

Fremde Bewegungskultur als „Bejahung der Sinne“: Dies und noch anderes mehr ist nicht gebunden an „die Afrikaner“ oder „Asiaten“. Durch fremde Bewegungskultur erfahren wir uns im wahrsten Sinne des Wortes als Menschen: eine Welt, eine Bewegung. Wir ahnen mehr, als wir dies zu wissen scheinen, daß fremde Bewegungen uns wieder „Leben“ zuführen in einer Zeit des Sp(r)itzensports, der körperlichen Deformierung und des Mißbrauchs „schlagender Argumente“ wie die des Baseballschlägers.

Durch eine Übernahme fremder Bewegungskultur eignen wir uns Bewegungs-Lebensmittel der Menschheit an. Das ist ein großer Gewinn für unser Leben. Es wäre fatal, die fremde Beweglichkeit wieder an „die Fremden“ binden zu wollen, womit wir uns gleichzeitig wieder von ihnen distanzieren könnten. Ich muß nicht in Afrika leben, um tanzen zu können, ich muß nicht Asiate sein, um Tai Chi zu praktizieren. Natürlich werden uns in der Bewegnung mit fremder Kultur nicht sofort und umstandslos Sinn und Bedeutung dieser Kultur mitgeliefert. Das muß auch nicht sein. Auch „fremde“ Bewegungen sind Mittel, mit denen unser menschlicher Körper seine Weisheit als Gattungskörper verwirklicht. „In Bewegung“ sind wir individuell und universell, verbunden in einem Mensch-Welt-Zusammenhang. Und es ist paradox: Die Entfremdung in uns selbst wird ausgerechnet durch das Fremde aufgehoben.

Es ist mehr denn je wichtig, tanzend und mitfühlend Schritte auf das Fremde hin zu wagen, damit wir wieder in Kontakt mit uns selbst kommen. Dieser Kontakt zum Leben durch Körper und Bewegung kann eine grundlegende Fremden-Freundlichkeit in uns bewirken. Dies setzt aber Freundlichkeit zu uns selbst voraus. Menschen, die „hartnäckig“ einen Kampf gegen sich selbst führen, suchen nur allzu oft den „Feind“ im anderen, Schwächeren, Fremden. Womit wir wieder beim Schlagball wären...

Der Autor ist Professor für Sportwissenschaft an der Universität Hamburg; Arbeitsgebiete: Handlungstheorie, Bewegungsforschung, Körpererfahrung.