Keßler verneint Schießbefehl

■ Achter Verhandlungstag im Honecker-Prozeß

Berlin (taz) – Nach Erich Honecker hat gestern auch der frühere DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler die Existenz eines „Schießbefehls“ an der Mauer und der deutsch-deutschen Grenze verneint. Keßler erklärte, weder kenne er einen Schießbefehl noch sei er jemals an der Ausarbeitung eines solchen beteiligt gewesen. Der Schußwaffengebrauch an der Grenze sei gesetzlich geregelt gewesen. Vergleichbare Regelungen gebe es auch in der Bundesrepublik. Die Toten an der Mauer bezeichnete Keßler als „schwerwiegende Vorkommnisse, die bedauert wurden und auch heute noch bedauert werden“.

Das war schon die konkreteste Aussage, die der Vorsitzende Richter Hansgeorg Bräutigam dem Angeklagten am achten Prozeßtag entlocken konnte. Ansonsten versuchte Bräutigam, mit Zitaten aus verschiedenen Protokollen und Dokumenten des Nationalen Verteidigungsrates die Existenz eines Schießbefehls darzulegen. So habe Erich Honecker laut einem Protokoll vom 20.September 1961 angeordnet: „Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schußwaffe anzuwenden.“ Am 6.Oktober 1961 wies der damalige Verteidigungsminister Heinz Hoffmann die Grenztruppen an, die Schußwaffe zur Festnahme oder zur „Vernichtung“ von Flüchtlingen einzusetzen.

Bräutigam hielt Keßler konkrete Fälle von Erschießungen an der Mauer vor und fragte den Angeklagten, ob er sich erinnern könne, ob diese im Nationalen Verteidigungsrat zur Sprache gekommen seien. Keßler: „Ich kann nur sagen, daß alle Fälle, an die ich mich jetzt nicht erinnere, an den Minister und den Nationalen Verteidigungsrat gegeben wurden.“ Keßler beteuerte, „die Vorkommnisse“ an der Grenze seien ihm nicht gleichgültig gewesen. „Der Minister“ – seit 1986 also Keßler – habe immer wieder mit Vertretern der Grenztruppen gesprochen, „wie die Grenzsicherung zu effektivieren“ sei. Auch im Nationalen Verteidigungsrat sei diskutiert worden, „in welcher Richtung die Grenzsicherung weitergeführt, korregiert und verändert“ werden könnte.

Insbesondere die Honecker- Verteidigung monierte die Befragung durch Bräutigam. Mit der Vorhaltung von Dokumenten aus den 60er Jahren, deren Zusammenhang mit der Tätigkeit Keßlers nicht erkennbar sei, betreibe Bräutigam eine unzulässige Vermischung von Beweisaufnahme und Vernehmung. Auch die Nebenklage zeigte sich mit der Befragung unzufrieden.

Nach drei Stunden mahnt Rechtsanwalt Becker das Ende der Sitzung an. Bräutigam erkennbar ungehalten zu Honecker: „Reicht es Ihnen?“ Dann wird die Verhandlung vertagt. Matthias Geis