Unermüdlich am Rand der Zumutung

■ „Casa de Locos“ im Tacheles: RA.MM in den Kältezonen des Gehirns

Es riecht muffig herb und leicht verwest: als hätte ein Zirkus im Tacheles überwintert und wäre, weil ihm die Tiere gestorben sind, wieder abgereist. Baumstümpfe und merkwürdige Apparaturen hängen von der Decke: Jede Vegetation hat den Kampf ums Überleben eingestellt. In den vier Ecken des Saales knistern Fernseher im ständigen An und Aus, als würden Stromschläge durch sie hindurchgepeitscht. Kleine sich allmählich steigernde Zuckungen.

Der ganze unterkühlte Raum ist als eine Art Innenraum des menschlichen Kopfes konzipiert, durch den die Nervenbahnen und grauen Zellen verlaufen. Die als Polarforscher gekleideten Menschen wandeln als experimentierende, ziellos in den Gehirnwindungen herumtappende Nervenströme durch die imaginierten Ganglien.

RA.MM, unermüdlich an den Rändern des Zumutbaren auf der Suche nach dem Dahinter, hat für diesmal eine Art Chirurgietheater entwickelt, wobei die martialische Kreissäge der Phantasie beständig gefährlich dicht am Gehirnzentrum der Zuschauer entlangsägt. Nicht jeder ist fähig, sich der Adaption von Psychostreß derart kompromißlos auszusetzen.

In der Mitte des Raumes steht ein überdimensionales weißes Zelt, ein Biwak im Eismeer der Gefühle, ein Konzentrationspunkt. Als hätten die Gehirnschläge, die ständig vom Plus- zum Minuspol rasen, dieses Zelt entflammt, brennt es plötzlich wenige Zentimeter neben den herumstehenden Zuschauern ab und gibt den Blick auf ein gigantisches Floß frei, das auf einer schwankenden Halbkugel ruht. Auf der Plattform versucht eine Gruppe von Polarforschern in die psychodelischen Tiefen der Gehirnwindungen einzudringen: ein schmerzhafter Prozeß der Irritation und vergeblichen Kommunikation, der zu blutiger Selbstkasteiung und gegenseitigem Kampf führt.

Die traumatischen Bilder, die an Mondlandungen, Polarexpeditionen und das Floß der Medusa gemahnen, purzeln im Stakkato durcheinander. Ein beruhigendes Assoziationszentrum wird konsequent verweigert, und selbst die Zuschauer nehmen an der allgemeinen Auflösung teil: Stuhllos wabern sie durch den Raum wie kleine Nervenstrahlen, die irritiert den rechten Pol nicht finden und ganz auf sich und die eigene kommunikationslose Gehirnstruktur gestellt bleiben.

Mit ihrer neuesten Produktion „Casa de Locos“ hat RA.MM einmal mehr eine rätselhafte Fahrt ins Unvorstellbare gewagt und aufs neue ein theatralisches Urerlebnis geschaffen, das dem Zuschauer unversehens wie ein Alptraum unter die feinnervige Haut gerät. Ein empfehlenswertes Erlebnis für alle, die vom Theater mehr als flächige Projektion, stillgestelltes Sitzfleisch oder vertrocknende Gehirnflüssigkeit erwarten. baal

Weitere Vorstellungen bis zum 26.12. täglich außer Mo und Di, 26.12 um 21 Uhr im Tacheles, Oranienburger Straße.