Frontstadt und Fährhafen

Dover, das „Tor zu England“, ist für viele Reisende nur Durchgangsstation. Dabei hat das Städtchen am Kanal seinen eigenen Charme – und die spektakuläre Klippenlandschaft ist viele Wanderstunden wert.  ■ Von Renate Graßtat

Dover, die Stadt zwischen den Kreidefelsen, ist das „Tor zu England“, mit einem Tag und Nacht unermüdlichen Fährverkehr, der Ströme von Touristen bringt, die von hier aus ihren Weg in alle Ecken der Insel beginnen. Daß man die Stadt selbst mit ihrem sublimen Humor dabei kaum beachtet, hatte ich nie verstehen können – nur eine Durchgangsstation, und für viele der erste Eindruck von England, den sie nie vergessen werden: das schrille Kreischen der Möwen vor der steil aufragenden Felswand, die mittelalterliche Burg, die abenteuerliche Klippenlandschaft. Wer sich nur ein bißchen Zeit nimmt, kann bei einer Wanderung an der Steilküste binnen kurzer Zeit aus dem geschäftigen Hafenbetrieb plötzlich in ein eindrucksvolles Stück Natur entweichen.

Auch in England hat man die Bedeutung dieser bisher vernachlässigten Stadt nun erkannt und aus der einst etwas schäbigen, aber atmosphäreträchtigen Hauptstraße eine blitzblanke Fußgängerzone gemacht. Und gerade die Natur, die hier das Ambiente ausmacht, hat das Nachsehen. Zu den Bestrebungen dieser Art gehört auch die Einrichtung eines „Historiums“ in neuerbauten, avantgardistisch anmutenden Hallen gleich hinter dem Marktplatz; „The White Cliffs Experience“ macht aus dem gewohnten Gang ins Museum ein Spiel. Thema ist die Geschichte der weißen Felsen als Wahrzeichen Englands und der Stadt Dover als der ersten Festung, die Eindringlinge zu nehmen hatten.

Gleich neben dem Eingang steht eine lebensgroße Wachsfigur, die triumphierend den abgetrennten Schädel einer weiteren lebensechten Puppe in der Hand hält. In diversen Gefäßen am Boden schwimmen andere Köpfe in rotbrauner Farbe – ganz offensichtlich Blut. Mit dieser einladenden Szene begrüßt das „Historium“ seine Gäste, vorzugsweise Familien mit Kindern und Schulklassen.

Die Ausstellung wurde in England zur „Besucherattraktion des Jahres“ gewählt. Wie schon im Londoner Museum for Natural History soll das eigene Erleben die passive Aufnahme aneinandergereihter Fakten ersetzen. Anschauliche – manchmal zu anschauliche – Szenen und kurze Filme, phantasierte Monologe einzelner Personen aus dem Jahre 140, ein Spielschiff für Kinder und ein kurzes Figurentheaterstück bringen die Besucher in die Historie – so wie man sie sich vorstellt zumindest. Aber oft erschöpft sich diese Beteiligung in der Wahl zwischen zwei Knöpfen – Vorgaben, die einen manchmal sogar passiver machen, als es in einem konventionellen Museum der Fall wäre. Und das Spiel ist ein bißchen zu sehr Spiel und allzu deutlich Ideologie:

„Sid Seagull“ etwa, die munter plappernde Figur der 15minütigen Theatervorstellung, kann ihre Verwandtschaft zu Donald Duck kaum leugnen, und „Corporal Crabbe“, ihr Mitspieler, verkörpert eine schrullige, zackige, letztlich als sympathisch intendierte Type des britischen Militärs. Das lag hart an meiner Toleranzgrenze; überschritten wurde sie dann aber eindeutig durch das letzte Spiel beim Ausstellungsrundgang: Ohne zu wissen, was sie erwartet, befinden sich die Besucher plötzlich in einer sorgfältig rekonstruierten Gasse des Jahres 1944; Geräusche von Bombenexplosionen und rotflackerndes Licht machen die Illusion vollkommmen – das heißt, vollkommmen wird sie erst durch einen Angestellten des Museums, der seine Rolle mit Leib und Seele erfüllt. Er agiert als „Fremdenführer“ in dieser dunklen Straße, als Ersatz für einen Kollegen, wie er sagt, der leider durch die Umstände des Krieges verhindert ist.

Als die Sirene ertönt, haben wir uns innerhalb von 30 Sekunden in einen täuschend echten Luftschutzraum zu drängeln, ausgestattet mit Decken, Taschenlampen, Bilderbüchern und Teddybären. „Congratulations“, strahlt unser Hüter dann, „28 seconds – so you're all safe.“

Ein Spiel, ein makabres Spiel, bei dem er ausgelassen mit den Kindern scherzt, ihnen zeigt, wie sie sich vor einem pfeifenden Geschoß zu ducken haben. Und wenn es ihnen Spaß gemacht hat, können sie nachher im Souvenirladen am Ausgang einen der kleinen Panzer kaufen.

Die Geschichte der Küste Englands, besonders dort, wo sie Frankreich sehr nahe ist, ist natürlich auch die Geschichte einer schon fast sprichwörtlichen Abneigung gegen alles Französische, die, trotz diverser vergangener Versuche, erst die Thatcher-Ära abgebaut hat – „von oben“ allerdings. Mit leiser, bisweilen auch starker Ironie ist daher in Großbritannien seit Baubeginn des Channel-Tunnels immer wieder auf dieses Projekt Bezug genommen worden: in Fernsehprogrammen und bei öffentlichen Veranstaltungen, in der Presse, auf Postkarten und bei der allgemeinen Unterhaltung übers Wetter. Besonders verbreitet war – und ist – ein Plakat, das zeigt, wie Franzosen und Briten aneinander vorbeigraben und wie sich die Politiker beider Länder bei der brüderlichen Umarmung einen Dolch in den Rücken stoßen.

Die Baustelle für den „Eurotunnel“ liegt nur einen Steinwurf von dem Platz entfernt, an dem die Geschichte der Verteidigung der Insel so blut-anschaulich dargestellt wird. Aber heute ist es nicht die Abwehr, sondern die Verbindung, die die Menschenleben fordert – nämlich die einer ganzen Reihe von Arbeitern, die im Laufe der Zeit durch Unfälle bei diesem Prestige-Projekt ums Leben kamen. Und die Verbrüderung, die offizielle, kann weitere unangenehme Folgen haben: die Zerstörung der Landschaft um die beiden Städte Dover und Folkestone, in deren Umgebung sich die breit angelegten Zufahrten zum Tunneleingang befinden werden. Die „Eurotunnel“-Gesellschaft selbst ist Mitglied eines Zusammenschlusses von Organisationen, die sich großspurig die Erhaltung der einzigartigen Landschaft und ihrer seltenen Tierarten zum Ziel gesetzt hat; realistisch wird in einer Broschüre bemerkt, daß der Tunnel eine weitere große Belastung für das Gebiet darstellen wird, das bereits sehr stark durch Umwelteinflüsse angegriffen ist. Die angekündigten Gegenmaßnahmen muten an wie eine Farce: die Beseitigung von Abfall, das Aufstellen von Hinweisschildern und deutlich gekennzeichnete Wanderwege. Doch wenn ich in Gedanken verbinde, was ich im Dover Museum und auf der Baustelle des „Eurotunnel“ gesehen habe, kommt mir eine andere gute Idee: Man sollte vielleicht jedem Auto, das in Dover eintrifft, mindestens ein Rad abhacken.