Leben mit Behinderung

■ Über die Sorgen einer alleinerziehenden Mutter mit einem spastisch behinderten Kind / Lange Wartelisten für Wohneinrichtungen der Spastikerhilfe e.V.

Der kleine Körper im Rollstuhl wirkt alterslos. Zärtlich streicht die Mutter über das Kindergesicht mit der dicken Brille. Seit ihrer Geburt ist Melanie Maleitzke spastisch gelähmt, und obwohl sie jetzt neunzehn Jahre alt ist, muß sie immer noch wie ein Kleinkind versorgt werden. Ihrer Mutter, Mesude Maleitzke, wird das manchmal einfach zuviel: „Ich habe überhaupt kein eigenes Leben mehr“, klagt die 44jährige. Ihren ganzen Tagesablauf muß sie von ihrer Tochter abhängig machen. Morgens steht sie spätestens um sechs auf, damit Melanie um halb acht, wenn sie der Telebus zur Sonderschule bringt, fertig ist. Manchmal verkrampfen sich Melanies Hals und ihre Arme – „dann ist es körperliche Schwerarbeit, ihr einen Pullover anzuziehen“.

Vormittags hat Mesude Maleitzke ein wenig Zeit für sich: Bis zwei Uhr ist Melanie in der Peter- Frankenfeld-Schule in Lankwitz. Ihre Mutter weiß sie dort gut aufgehoben: „Sie hat dort gute Freunde, und ich glaube, zu Hause bei Mama findet sie es viel langweiliger.“ Lesen und Schreiben kann Melanie nicht lernen, denn sie ist geistig behindert, schwerhörig und stark kurzsichtig. Auf ihrem Stundenplan stehen Dinge wie Kochen, Einkaufen, Schwimmen und Spielen.

Wenn Melanie von der Schule nach Hause kommt, fährt ihre Mutter sie eine Stunde lang spazieren. Jeden Nachmittag ist es wieder eine Angstpartie, den Rollstuhl mit Melanie darin die sechs Stufen vom Zwischengeschoß hinunter vors Haus zu tragen. Dafür ist die Umgebung der Zweizimmerwohnung im grünen Tegel für Spaziergänge gut geeignet. Am Spätnachmittag kocht Frau Maleitzke für ihre Tochter, badet sie, macht sie bettfertig und erzählt ihr eine Gute-Nacht-Geschichte. Ab halb neun schläft Melanie, aber zu Hause bleiben muß ihre Mutter trotzdem: „Nachts wacht das Kind oft auf und fängt an zu schreien, dann muß ich da sein, um sie zu trösten.“

Bevor ihr Mann, der ihr früher bei Melanies Pflege half, sie vor vier Jahren verließ, konnte Mesude Maleitzke trotz allem einen Beruf ausüben. Zwölf Jahre lang arbeitete sie als Nachtschwester auf der Intensivstation im Waldkrankenhaus Spandau. „Ich habe diesen Beruf immer geliebt, und ich würde lieber heute als morgen wieder arbeiten“, meint sie. Aber das sei unmöglich, denn neben der Pflegerin, die das Bezirksamt für dreizehn Stunden pro Woche bezahlt, müßte sie dann noch auf eigene Kosten eine Pflegekraft einstellen. „Eine zuverlässige Pflegerin ist aber kaum zu finden, und außerdem kann ich es mir nicht leisten, 28 Mark Stundenlohn zu zahlen.“ Sie und Melanie müssen von monatlich 2.000 Mark Pflegegeld leben.

Am liebsten würde Frau Maleitzke ihre Tochter in einer Wohneinrichtung der Spastikerhilfe Berlin e.V. unterbringen, die dreizehn Wohnheime und Wohngemeinschaften unterhält. Darin leben hundert Menschen mit unterschiedlich schweren Behinderungen. „Sie führen dort ein so normales Leben, wie es nur möglich ist“, sagt Beatrix Gomm von der Spastikerhilfe Berlin. Die Wartelisten für die Wohneinrichtungen zeugen von ihrer Beliebtheit: 140 Behinderte warten auf Plätze. Seit mehreren Jahren steht Melanie Maleitzke schon auf der Liste, aber ihre Chancen sind dennoch schlecht. Da die Behinderten auf Dauer in den Wohneinrichtungen leben, werden kaum Plätze frei, und die Neubauten, die in den nächsten Jahren eröffnet werden, können bei weitem nicht alle Interessenten aufnehmen.

Mesude Maleitzke findet es unverständlich, daß die Sozialverwaltung vor einem halben Jahr einen Planungsstopp für Wohneinrichtungen der Spastikerhilfe verhängt hat. Werner Herzog, bei der Sozialverwaltung für Behindertenintegration zuständig, begründet das mit internen Querelen in der Spastikerhilfe, in der die Eltern, die nur das Beste für ihre Kinder wollen, sich mit der Trägerorganisation streiten, die auf Wirtschaftlichkeit sieht. Hinter dem Planungsstopp vermutet Rainer Flugk von der Spastikerhilfe dagegen die heimliche Absicht, zu sparen: „Der Senat ist fein raus, aber für viele Eltern bedeutet das, daß sie für ihr Kind erst im nächsten Jahrhundert einen Platz kriegen.“

Mesude Maleitzke wäre schon froh, wenn sie ihre Tochter ab und zu im Kurzzeitheim der Spastikerhilfe unterbringen könnte, das Behinderte für höchstens sechs Wochen aufnimmt, wenn ihre Verwandten krank werden oder einfach vom Pflegealltag erschöpft sind. Aber auch dieses Heim ist permanent überbelegt. „In den großen Ferien mußte ich 24 Stunden pro Tag auf Melanie aufpassen“, erzählt die Mutter. „Da habe ich manchmal gedacht, ich werde verrückt.“ Miriam Hoffmeyer