Gifte verantwortlich machen

Der Holzschutzmittel-Prozeß läuft sechs Monate/ Sachverständige stellen Gift-Syndrom fest/ Hauptgutachter widerspricht  ■  Aus Frankfurt Michael Blum

Giftige Holzschutzmittel haben bei vielen Menschen zu Schäden an Gehirn und Nieren, Leber und zentralem Nervensystem geführt. Das meint zumindest die Mehrheit der Sachverständigen im Frankfurter Holzschutzmittel-Prozeß. Doch lassen sich diese Krankheitsbilder wirklich zu einem „Holzschutzmittel-Syndrom“ verdichten? Seit Wochen dreht sich im bislang größten Umweltprozeß der Republik alles um diese eine prozeßentscheidende Frage. Auf der Anklagebank sitzen Geschäftsführer Fritz Hagedorn (62) und Kurt Steinberg (66), ehemaliger Geschäftsführer der Dewowag Materialschutz GmbH (Düsseldorf).

Etliche Neurologen, Biochemiker und Internisten haben seit der Prozeßeröffnung im Juni '92 die Existenz eines solchen Syndroms bestätigt, identische Krankheitsbilder und -verläufe von Holzschutzmittelopfern nachgezeichnet. Letzte Woche aber verwarf ausgerechnet der erste von sechs Hauptgutachtern, der Erlanger Arbeitsmediziner Rainer Schiele, die Existenz eines „Holzschutzmittel-Syndroms“. Ein wissenschaftlich haltbarer Nachweis, daß es ein „Holzschutzmittel-Syndrom“ als den Auslöser einer Vielzahl von Krankheiten gibt, sei nicht zu führen. Gleichwohl seien PCP-haltige Holzschutzmittel als Krankheitsverursacher der von ihm begutachteten Patienten nicht gänzlich auszuschließen, meinte Schiele.

„Xyladecor“ und „Xylamon“ erhalten die Behaglichkeit von Holz im Innenraum – so versprach's jahrelang die Werbung der chemischen Industrie. Nach Auffassung der Frankfurter Staatsanwaltschaft blieb dabei nicht nur der Holzwurm auf der Strecke: Mehrere 100.000 Menschen sollen in den alten Bundesländern durch die aus dem behandelten Holz ausgasenden hochtoxischen Stoffe PCB und Lindan erkrankt sein.

Gift für Behaglichkeit im Innenraum

Viele Geschädigte wurden auch finanziell ruiniert, mußten die mit den Holzschutzmitteln belasteten Häuser und Wohnungen fluchtartig verlassen oder teuer sanieren. Ärzte attestierten unerklärliche Symptome, Patienten wurden in die Ecke psychisch Kranker gestellt oder auch an Folgeerkrankungen herumkuriert.

Der Internist und Leiter einer Heidelberger Reha-Klinik, Wolfgang Huber, arbeitet seit Jahren mit ganzen Patientenkollektiven von Holzschutzmittelgeschädigten und fand bei fast allen Patienten gleiche Erkrankungsmuster. Das Immunsystem sei durch PCP-haltige Holzschutzmittel angegriffen worden, so der Sachverständige im Prozeß. Organerkrankungen folgten, dazu Leistungsknicks, Antriebsschwäche und Vergeßlichkeit. Auffallend für Huber: Alle Patienten hatten zuvor kanisterweise Holzschutzmittel in ihren Wohnungen verstrichen.

Harun Parlarhat, Chemiker an der Gesamthochschule Kassel, sieht die BRD-Bevölkerung durch die Holzschutzmittel flächendeckend mit PCP kontaminiert. Für den Hamburger Mediziner Karl Rainer Fabig sind diese Mittel ein „riesengroßer Menschenversuch“.

Die beiden Angeklagten Hagedorn und Steinberg schweigen bislang zu den Vorwürfen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, die PCP- und lindanhaltigen Holzschutzmittel in den siebziger Jahren nicht vom Markt genommen und die Öffentlichkeit nicht gewarnt zu haben, obwohl ihnen die Gefährlichkeit der Mittel bekannt gewesen sei. Mit konkurrierenden Unternehmen und dem Bundesgesundheitsamt sollen sogar gemeinsame Gegenstrategien zu in der Öffentlichkeit auftauchenden ersten Vermutungen über die Giftigkeit der Mittel getroffen worden sein. Die Anklage gegen Steinberg und Hagedorn lautet auf „schwere Körperverletzung und Freisetzen von Giften“.

Für eine Verurteilung (Strafmaß bis zu zehn Jahren) muß der Nachweis eines Zusammenhangs zwischen der Anwendung der Mittel und Erkrankung geführt werden. Der allerdings ist, folgt man Verteidiger Rainer Hamm, bislang nicht erbracht. Dss von der Desowag herausgegebene Prozeß-Journal sieht den Prozeßausgang deshalb weiter als völlig offen an.

Auch gegen Bayer-Mitarbeiter wird ermittelt

Die Anklage gegen den Marktführer Desowag („Xyladecor“ und „Xylamon“) ist eine Art Pilotprozeß: Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich in acht Jahren gegen 40 Firmen ermittelt. Seit Oktober 1992 ist auch Chemiemulti Bayer Leverkusen mit von der Partie: Der Konzern war bis 1986 an der Desowag beteiligt – Anfang Oktober durchsuchten Beamte des Bundeskriminalamtes Konzerngebäude in Leverkusen und Wuppertal. Acht Verantwortlichen wirft die Staatsanwaltschaft vor, die Herstellung und den Vertrieb der Gifte nicht unterbunden zu haben, obwohl ihnen die Gefährlichkeit bekannt gewesen sei.

Für die Unternehmen könnte eine Verurteilung der beiden Desowag-Manager dramatische Folgen haben: Mehrere Dutzend Zivilprozesse auf Schadensersatz und Schmerzensgeld sind derzeit anhängig. Die Verfahren sollen erst nach dem Urteil von Frankfurt weitergehen. Käme es dort zu einer Verurteilung, würden Ersatzansprüche in den Zivilverfahren leichter durchzusetzen sein – in Milliardenhöhe und gegen die betreffenden Firmen. Am Ende der Leidensgeschichte unzähliger Holzschutzmittel-Anwender könnte dann auch der Ruin der Unternehmen stehen. Selbst bei einem Freispruch sind die Chancen in den Zivilprozessen nicht zwangsläufig dahin: Der Frankfurter Prozeß hat bislang unabhängig vom ersten Hauptgutachten eines belegt: Die Holzschutzmittel sind als Krankheitsverursacher nicht auszuschließen. Ungeachtet vom Ausgang des Frankfurter Verfahrens fordert die Verbraucher-Initiative weiterhin die Einrichtung eines Drei-Milliarden-Fonds für Chemikaliengeschädigte – durch Industrie und Bundesregierung.