Vor 50 Jahren ordnete Heinrich Himmler an, die deutschen Roma- und Sinti-Familien nach Auschwitz zu deportieren. Der damaligen deutschen „Zigeunerpolitik“ fielen mehrere hunderttausend Menschen in ganz Europa zum Opfer. Der gestrige Gedenkakt hatte seine Tücken. Aus Berlin Götz Aly

Logik der Vernichtung

Der Satz „wehret den Anfängen“ ging ihnen nicht mehr so recht über die Lippen, aber Selbstzweifel blieben ihnen fremd. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Renate Schmidt, gewann auch nicht mehr an Rang und Format, obwohl Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, sie unentwegt als „Frau Präsidentin“ titulierte.

Nur zweitrangige Politiker – von Waffenschmidt (CDU, Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium), über Diepgen (CDU, Regierender Bürgermeister, Berlin) bis Schnoor (SPD, Innenminister, Nordrhein-Westfalen) hatten sich gestern in einen abseitigen Sitzungssaal des Berliner Reichstages bemüht. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hatte eingeladen. Die Überlebenden und ihre Nachkommen gedachten des „Auschwitz-Erlasses“ vom 16. Dezember 1942, mit dem die „Zigeunerfrage“ in Deutschland „endgültig geregelt“ werden sollte.

Ein Erlaß, der für Tausende Sinti und Roma den Tod bedeutete und doch nur präzisierte, was im Hinblick auf Hunderttausende längst im Gang war – „die Endlösung der europäischen Zigeunerfrage“. Gestern vor 50 Jahren, am 16. Dezember 1942, verordnete der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, der wenig später zum Reichsinnenminister ernannte Heinrich Himmler: „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft (sind) nach bestimmten Richtlinien auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen. Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz.“

Entsprechend diesem Erlaß wurde eine winzige Minderheit von der sofortigen Deportation zurückgestellt, ihre Zwangssterilisierung geplant und teilweise auch realisiert. Es waren diejenigen „zigeunerischen Personen, die seit Jahren in fester Arbeit standen“, und solche als Zigeuner definierten Menschen, die in der Rüstungsproduktion als „unabkömmlich“ galten, noch bei der Wehrmacht dienten oder dort Kriegsauszeichnungen erhalten hatten.

Aber auch diese wenigen Ausnahmen provozierten das gesunde deutsche Volksempfinden – beispielsweise das der Frau Margarete Dickow. Sie schrieb im Herbst 1943 namens ihrer Kleingärtnerkolonie („Kiefernheide“ in Berlin- Karlshorst) an das Polizeipräsidium: „Ich habe in meinem Block Zigeunerfamilien mit acht und vier Kindern zu wohnen. Ich bitte für alle Volksgenossen, welche in der Kolonie wohnen und sich bemühen, anständige Menschen aus ihren Kindern zu machen, diesem Zustand ein Ende zu bereiten, indem die Zigeuner verschwinden.“ Der Polizeipräsident wies dieses Ansinnen zunächst zurück. Darauf meldeten sich die Kleingärtner – bestes Berliner Arbeitermilieu – am 28. Oktober 1943 kollektiv zu Wort: „Wir sprechen hierdurch die dringende Bitte aus“, insistierten sie, „daß die Zigeuner, die noch auf Kleingartenparzellen hausen, endlich einem Sammellager überwiesen werden. Abgesehen davon, daß hierdurch Kleingärtner von unliebsamen Mitmenschen befreit werden, würden auch Kleingärtnerparzellen frei werden.“

Dem Auschwitz-Erlaß vom 16. Dezember 1942 fielen etwa 30.000 Menschen zum Opfer. Er regelte den letzten Akt des Völkermords an den europäischen Zigeunern. Die Vorbereitungen waren längst getroffen worden – von der deutschen Kriminalpolizei, den biederen grünen Ordnungspolizisten und Beamten des Reichsgesundheitsamts und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sie hatten mit Anthropologen und – vor allem auch: Anthropologinnen – jahrelang Hand in Hand gearbeitet. Ihre mehr als 20.000 „rassenbiologischen Gutachten über zigeunerische Personen“ hatte Himmler im August 1941 auswerten lassen. Sie wurden die exekutive Grundlage des Auschwitz-Erlasses von 1942. Insgesamt ermordeten deutsche und ihre jeweiligen einheimischen Hilfstruppen während des Zweiten Weltkrieges mehrere hunderttausend Sinti und Roma.

Wie das in Auschwitz geschah, berichtete gestern die Auschwitz- Überlebende Elisabeth Guttenberger: Sie wurde 1926 in Stuttgart geboren, ihr Vater war Musikant, sie wuchs in München auf, besuchte die Volksschule. Ihre Lehrerin mißachtete das Verbot, das Mädchen als „Fremdrassige“ der Schule zu verweisen, und verhalf ihr statt dessen zum Schulabschluß. Als Siebzehnjährige wurde sie zusammen mit ihrer Familie verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie als Blockschreiberin überlebte. Dreißig ihrer engsten Angehörigen starben dort, den Tod des Vaters mußte sie bereits nach einer Woche registrieren. „Die Kinder sind sehr bald verhungert“, berichtete Frau Guttenberger, „die Neugeborenen wurden ordnungsgemäß tätowiert und starben dann nach wenigen Tagen.“

Am Ende ihres Berichts reflektierte Elisabeth Guttenberger die Gegenwart. Sie bemerkte, daß diese Zeit ihre Wunden nicht heilen könne: „Ich bin bestürzt über das Wegsehen vieler Bürger, das schwere Erinnerungen weckt.“ Diese Bemerkung reizte die Bundestagsvizepräsidentin Renate Schmidt (SPD) derart, daß sie vom Manuskript abwich, die Veranstaltung kurzerhand auf das Normalmaß deutschen Gedenkens reduzierte: „Sie haben das Recht zur Kritik an dieser Stelle“, räumte die Vizepräsidentin generös ein – „auch dann, wenn diese Kritik manchmal ungerecht ist.“ Voller Feinfühligkeit spann Eberhard Diepgen anschließend den Faden weiter: „Wir haben eingegriffen, auch rechtzeitig“, beharrte er, es gäbe in der deutschen Justiz und in den großen Parteien niemanden, der klammheimlich mit der Ausländerfeindlichkeit sympathisiere. Dem leisen Protest setzte Diepgen in einem regelrechten Crescendo entgegen: „In diesen Maßnahmen werden wir obsiegen!“ Alle hätten nun gemerkt, „wie dünn das Eis der Humanität unter unseren Füßen werden kann“, und daher sei nun „Mitbürgerlichkeit“ angesagt – ein karriereverdächtiges Wort.

Wäre da nicht Ignatz Bubis gewesen, die Veranstaltung wäre vollends im Eis der Humanität eingebrochen. Kurz und knapp bemerkte Bubis: „Die Demokratie ist uns von den Alliierten aufgezwungen worden, wir haben sie gelernt – selbstverständlich ist sie nicht.“ Er freue sich über die Lichterdemonstrationen – aber: „Es fehlt mir dabei an Spontaneität.“