Europas Musterschüler stürzt ab

Spaniens Erfolgsstory in der Krise: Nach dem Jubeljahr 1992 verordnet Felipe González dem Volk nun ein Sparprogramm/ Die Gewerkschaften diskutieren neuen Generalstreik  ■ Aus Madrid Federico Bugno

Zeit, daß die Spanier ihren Gürtel enger schnallen: „Wir leben über unsere Verhältnisse“, sagt Ministerpräsident Felipe González, mittlerweile zehn Jahre an der Macht. Und seit er dies, kurz nachdem die Weltausstellung in Sevilla ihre Pforten schloß, verkündete, ist im Land ein fast starres, eisiges und angstvolles Schweigen ausgebrochen. Am Ende eines für Spanien wunderbar scheinenden Jahres mit unzähligen internationalen Anerkennungen, von den Olympischen Spielen bis zur Feier von Madrid als „Kulturhauptstadt Europas“, entdecken die Spanier, daß das „vivir bien“, wie der Schriftsteller Francisco Umbral sagt, das gute Leben, „nicht immer gleichbedeutend ist mit wirklichem Reichtum und echter Entwicklung“.

Die Krise ist da, und man spürt sie. Die Regierung begegnet ihr mit zahlreichen Sparmaßnahmen im Haushalt 1993 – die allerdings sind, so der Präsident des spanischen Industriellenverbandes, allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. „Die spanische Krise“, erklärte er gegenüber L'Espresso, „ist nicht konjunkturell, und sie wird nicht schnell vorübergehen. Sie hat alle Anzeichen einer Strukturkrise– auch wenn wir sie nicht als irreversibel ansehen.“ Die Ursachen sieht er in „einer mittlerweile erschöpften Wirtschaftspolitik, die sicher einige Zeit nützlich war, die aber angesichts einer internationalen Wirtschaftskrise eine völlige Pleite ist“.

In Stücke zerbricht so ein Bild, das die Spanier in den letzten Jahren besonders gerne von sich gemalt haben – das spanische Volk als „Musterschüler“ des Neuen Europa. Das ging zeitweise so weit, daß man sich sogar als Fahrgast erster Klasse im Maastricht-Zug betrachtete. Doch dann genügte ein knapper Monat schwerer Spannungen auf den internationalen Geld- und Warenmärkten, und schon müssen sich die Spanier fragem, ob sie überhaupt noch in diesem Zug mitfahren wollen und können. In den „heißen Monaten“ des Währungsverfalls kostete die Schwäche der spanischen Peseta die Nationalbank bis zu 14 Milliarden Dollar – das sind fast 20 Prozent der gesamten Geldreserven. Wirtschaftsminister Carlos Solchaga sah sich schon im Oktober veranlaßt, die EG zur Einrichtung eines Sonderfonds für die besonders schwachen Währungen der Gemeinschaft zu drängen.

Gerächt hat sich, daß die spanische Währung aufgrund der hohen Zinsen allerlei ausländisches Kapital angelockt hatte und damit zeitweise stark überbewertet war – mit der Krise floß das Geld wieder ab, es blieb das sich rasch vergrößernde Defizit. Selbst der Vergleich zu anderen krisengeschüttelten Ländern fällt oft bitter aus: „Italien“, schreibt zum Beispiel das überaus Gonzáles-kritische Blatt El Mundo, „besitzt immerhin eine dichtbesetzte Industrie, aber auch die fehlt in Spanien fast völlig.“

Daß es in Spanien kaum entwickelte nationale Industrie gibt, ist denn auch eines der von der Opposition am häufigsten gebrauchten Argumente. „Das spanische Wirtschaftswunder“, schreibt der Regierungskritiker Francisco Umbral, „wurde mit großen Immobilieninvestitionen geschaffen. Diese wurden jedoch alle mit Hilfe ausländischen Kapitals getätigt, viele durch Ankauf staatlicher Schuldscheine. Dieser scheinbare Reichtum verschwindet, sobald die Anleger anderswo bessere Möglichkeiten finden, wie etwa in letzter Zeit in der Deutschen Mark.“

Und Francisco Umbral weiter: „Felipe sagt nun, wir leben über unsere Verhältnisse. Richtig. Nur: Die Schuld dafür trägt er. Es ist die Schuld sozialistischer Politik – die übrigens noch dazu alles andere war als sozialistisch. Unser Wohlstand war nur Make-up. Es war ein Reichtum, der mit Wechseln und Kreditkarten finanziert wurde, ein pausenloser Jahrmarkt der Eitelkeiten, hypnotisiert durch den Markt, mit der Perspektive eines nahenden Eurokapitalismus. González hat den Spaniern das Paradies versprochen, und viele haben daran geglaubt.“

Schlußfolgerung? Bisher ein perfektes Gleichgewicht, so Umbral, mit einer Regierung, die dem Volk ihr sozialistisches Gesicht zeigte und den Bankiers und den Geschäftemachern ihr kapitalistisches. Doch nun bröckelt das Make-up, es bricht förmlich auf. Die Sozialisten stehen vor gewaltigen Problemen. Die Einsparungen, die sie vorschlagen, genügen nicht einmal nach eigener Rechnung zum ernsthaften Abbau des Defizits. Umgerechnet gerade zehn Milliarden D-Mark sind es, nicht einmal ein Zehntel von dem, was zum Beispiel Italiens Regierung – bei etwa doppelt so großem Haushaltsloch– derzeit einspart.

Vertreter des Kapitals vermuten denn auch, daß die Maßnahmen der Regierung überhaupt keinen Effekt zeitigen werden. Dennoch munkeln hinter vorgehaltener Hand auch die Regierungspropheten, daß mehr als 500.000 Entlassene zusätzlich um Hilfe anstehen werden – mit einer Arbeitslosenquote von 21 Prozent hätte Spanien dann eine europäische Spitzenposition.

Auch sonst gibt es kaum positive Zahlen. Spanien führt doppelt soviel Waren ein, wie es exportiert, das Außenhandelsdefizit ist auf sechs Prozent des Bruttosozialprodukts angelangt.

Die Gewerkschaften diskutieren derweil einen Generalstreik. Den letzten hatten sie im Dezember 1988 ausgerufen – damals wurde González zu Zugeständnissen auf sozialem Gebiet gezwungen. Doch noch heute zählen die Renten in Spanien zu den niedrigsten in Westeuropa, im Durchschnitt kaum mehr als 600 Mark monatlich. Neue Opfer sind da von der Mehrheit des Volkes kaum abzuverlangen.