High-Tech statt Abschiedsszenen

Madrids erster Bahnhof gähnt in vornehmer, aber postmoderner Leere  ■ Von Antje Bauer

Noch bis vor wenigen Jahren schien Atocha mehr dem vergangenen Jahrhundert anzugehören als dem modernen Spanien. Behäbig lag der Bahnhof in seiner Kuhle, unberührt vom Lauf der Zeit. Was machte es, daß schon längst auf den meisten Gleisen Elektroloks standen und nur in die Madrider Außenbezirke eine qualmende, stampfende Maschine aus Gründerzeiten fuhr. Durch die verstaubten Glasscheiben der riesigen Bahnhofskuppel drang wie eh und je warmes Sonnenlicht in die Halle und legte sich auf hastende Menschen, hölzerne Anzeigentafeln und Schalter, hinter denen geruhsame Menschen saßen, die keiner Fremdsprache mächtig waren. Vom Bahnhof Atocha aus ging's nach Süden. Jeder, der nach Andalusien oder in die Extremadura wollte oder auch nur in einen der südlichen Arbeitervororte der Stadt, mußte seinen Weg über diesen ersten Madrider Bahnhof nehmen. Und ockerfarben wie der Süden war auch der erste Madrider Bahnhof selbst.

„Eines Tages, am 9. Februar 1851, erschien neben dem Kloster Atocha ein Monster, das Rauch spuckte, Feuer säte und dessen Pfeifen halb Madrid hörte.“ So wird in einem Madrider Reiseführer aus dem Jahre 1876 die Einweihung der Eisenbahnlinie von der Hauptstadt ins nahegelegene Aranjuez beschrieben. Die Waggons schienen auf Gleise gesetzte Postkutschen, die Loks erfüllten die beiden hölzernen Einfahrtshallen mit Dampf. Was, zwar feierlich, aber dennoch bescheiden, begonnen hatte, wurde bald vergrößert, erweitert, modernisiert. Aus Atocha fuhren Züge ins nördliche Saragossa, vor allem jedoch ans Meer, nach Alicante, weshalb der Bahnhof den Namen „Estación del Mediodia“, Bahnhof des Südens, erhielt. 1892, vor genau 100 Jahren, entstand der Bahnhof in seiner heutigen Form: mit der großen Metall- und Glaskuppel und einer riesigen repräsentativen Backsteinfassade samt Uhr – in Madrids Prestigebahnhof wurde das Zeitalter der Eile eingeläutet.

Von hier aus wurden wenige Jahrzehnte später die spanischen Truppen in die Nordafrikakriege verschickt. Am 1. Mai 1929 entdeckten Beamte in einem Gepäckfach des Bahnhofs den enthaupteten Körper eines Mannes – ein Ereignis, das als „das Verbrechen von Atocha“ in die Krimi-Annalen einging. Von hier floh der besiegte Rest der anarchistischen „Kolonne Durruti“ 1936 vor den Franco- Truppen nach Barcelona. In den Jahren der Franco-Diktatur empfing der Caudillo auf diesen Bahnsteigen seine ausländischen Gäste. Der Estación del Mediodia wurde zum Schauplatz literarischer Werke (Camilo José Cela zitiert ihn in seiner „Reise in die Alcarria“) und 1979 zum Ziel eines ETA-Anschlags, der zwei Tote forderte, worauf die Gepäckaufbewahrung geschlossen wurde. Auch im gefeierten Film „Beltenebros“ von Pilar Miro fehlt der alte Bahnhof nicht.

Am 21. April 1992, im spanischen Jubeljahr, wurde der jahrelang renovierte Bahnhof erneut eingeweiht. Wie damals hoben Honoratioren die zukunftsweisende Bedeutung des Bahnhofs hervor, wie damals bestieg ein auserlesenes Publikum einen Zug und begab sich auf die Reise – und zwar wieder einmal im Allermodernsten, das Spanien zu bieten hatte, dem Hochgeschwindigkeitszug AVE, der an diesem Tag seine täglichen Fahrten zur Expo in Sevilla aufnahm. Der AVE (spanisch: „Vogel“) war ein Unglücksvogel. Schon daß eine französische und eine deutsche Firma den Zuschlag für den Bau bekommen hatten, war in Spanien mit erheblichem Unmut aufgenommen worden. Die Katalanen hatten sich geärgert, weil nicht Barcelona, sondern Sevilla Anlaufpunkt der ersten AVE-Strecke geworden war, und die Umweltschützer hatten Rabbatz gemacht, weil die Gleislegung des Zuges mehrere hundert Kilometer Landschaft der Länge nach durchteilte. Finanziell ist das Prestigeobjekt unrentabel, und damit nicht genug, verschlechterten zahlreiche Pannen in der Anfangszeit das öffentliche Image des Zugs noch weiter.

Die spanische Lust am Abkanzeln tobte sich am AVE weidlich aus, verschonte jedoch seinen Ausgangsbahnhof weitgehend. Unter der Regie des Architekten Rafael Moneo ist die ehemalige verstaubte Bahnhofshalle zu einem postmodernen Vestibül geworden, in dem grauer Marmor, Glas und High-Tech den Ton angeben. Wo früher die Gleise endeten, steht heute ein botanischer Garten, dessen Palmen aus Tausenden Düsen mit Nebeln besprüht werden. Vögel singen in den Palmfächern, im Schatten der Bäume sitzen die Reisenden auf marmornen Simsen und blicken auf den Seerosenteich, der das Ensemble umschließt. Freilich ist das frühere Gewusel vornehmer Leere gewichen: Nur die besseren Züge, die AVEs und Talgos, legen hier an. Wer wenig Geld hat, reist weiterhin über den Bahnhof Chamartin. Und niemand steht auf dem Bahnsteig und winkt: Aus Sicherheitsgründen dürfen sich nur Passagiere mit Fahrkarte den modernen Gefährten nähern. Es ist eine schöne, aber kalte Abreisestelle. An die Zeiten, in denen Bahnhöfe noch Orte des Abschieds und Wiedersehens waren, gemahnt nur noch ein hölzerner Zug, der wie zur Erinnerung auf dem letzten Gleis steht. Sonntags fährt er wie früher nach Aranjuez.