Der „Gelegenheitsphilosoph“ ist tot

■ Günther Anders starb am Donnerstag im Alter von 90 Jahren in Wien

Berlin (taz) – Der vor den Nazis aus Deutschland geflohene Philosoph Günther Anders (eigentlich Günther Stern) ist vorgestern in seiner letzten Exilheimat Wien gestorben. Am selben Tag wie diese Todesnachricht kam die Meldung eines neuen Lebens über die Agenturen: ein künstlich gezeugter Stier, dem niederländische Forscher ein menschliches Gen eingepflanzt hatten, darf laut Parlamentsbeschluß nun Nachkommen zeugen.

Der Zusammenhang ist obszön, und er bestätigt Günther Anders' Denken: daß unser 20.Jahrhundert „das zweite platonische Zeitalter“ sei, in dem wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen können. Schon deshalb kann es nicht genügen, „die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin... Wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht ohne uns verändere.“

Günther Anders, der sich selbst als „Gelegenheitsphilosoph“ bezeichnete, war eine Ausnahme in seiner Zunft, weil er die Veränderungen der Welt zum Material seines Denkens machte. Die Erfahrungen seines Exils – weitgehend mittellos in Paris, ein Paria wie seine Frau Hannah Arendt, Walter Benjamin und andere, dann mit „odd jobs“ in den USA sein Überleben fristend, schließlich in Wien freier Philosoph ohne akademische Sicherungen – zwangen den Husserlschüler, „in die Praxis zu desertieren“. Zwei wesentliche Erfahrungen waren es, die seine Aufklärungsarbeit ausmachten, zwei elementare Empfindungen, ihre Ursachen und ihre Verdrängung: Angst und Scham.

Die Verdrängung der Angst beginnt für Günther Anders mit der Herstellung der Atomkraft, deren Vernichtungspotential unsere Vorstellungskraft überschreitet, obwohl es Hiroshima und Nagasaki traf. Gegen die „naive“ und „lügenhafte“ Unterscheidung zwischen der „friedlichen“ und der „kriegerischen“ „Verwendung“ der Atomkraft wandte er ein, daß sie auf derselben politischen Verachtung menschlichen Lebens beruht und auf derselben individuellen Unfähigkeit der Phantasie: „Gewiß, man beabsichtigt mit dem Bau von Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen nicht die Vernichtung von Millionen, aber man nimmt sie als 'Restrisiko‘ in Kauf.“ Und wir sind nicht mehr fähig, uns die nötige Angst zu leisten, wir sind diejenigen, „die sich in idiotischer Angstlosigkeit die Fernsehbilder von Brokdorf oder Wackersdorf mit einem Glas in der Hand servieren lassen.“

Gegen diese Angstlosigkeit zog Günther Anders zu Felde, zum Schluß mit einem Aufruf zur Gewalt: „Wer glaubt, diese hoch beamteten Terroristen, die seit 1945, seit dem einfältigen Truman, der Vernunft nicht zugänglich gewesen sind, durch Blümchenüberreichen oder durch Einführung von Festtagen oder durch Händchenhalten umstimmen zu können, der ist naiv, denn er ignoriert – gleich, ob bewußt oder unbewußt – die Interessen der Rüstungsindustrie.“ Der Philosoph forderte ausdrücklich, die Verantwortlichen zu bedrohen: „Da sie uns pausenlos terrorisieren, könnte es geschehen, daß auch sie einmal pausenlos eingeschüchtert werden und sich in acht nehmen werden müssen. Es gibt keine andere Alternative, als diesen Männern ausdrücklich mitzuteilen, daß sie sich nun, einer wie der andere, als Freiwild werden betrachten müssen.“ (taz vom 9.5.1987) Diese Wendung vom Wort zur Waffe hat Anders naturgemäß wenig Freunde gemacht. Aber auch ohne diese politische Radikalisierung, die nicht nur Pfarrer Heinrich Albertz „unverantwortlich“ nannte, wäre er weitgehend einsam gestorben: ein Philosoph, der sich an alle denkenden Menschen wendet, der auf jegliche akademische Attitüde verzichtet und politisch schreibt wie agiert, wird in der Zunft nicht gern gesehen. Günther Anders hat zudem darauf bestanden, daß es Aufgabe der Philosophie sei, nicht den uns umgebenden „Systemen“ ein weiteres hinzuzufügen, sondern mit Sprache unser Erleben bewußt und verstehbar zu machen. Die Phänomenologie, als philosophische Disziplin zur Harmlosigkeit herabgekommen, wurde von ihm, als letztem, ernst genommen. Wie ein Anarchist des Denkens inmitten betriebsamer Angestellter der Verdrängung wollte er wirken und hat er gewirkt; ein unsanfter Moralist, der mit dem immer passenden Etikett des „unbequemen Mahners“ wegbeurteilt wurde.

Die Unzulänglichkeit unseres Denkens angesichts der von uns „hergestellten“ Welt war Thema seiner Arbeit: Und diese Unzulänglichkeit attestierte er nicht nur seinen Kollegen, sondern allen Zeitgenossen mit seinem Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“. Dort beschreibt Anders die Scham der Individuen vor der beschämend hohen Qualität der selbstgemachten Sachen als eine notwendige Folge des Industriezeitalters: umgeben von perfekten Dingen, die nicht geworden, sondern gemacht sind, empfinden wir uns selbst als unzulänglich. „Heute vormittag einem neuen Pudendum auf die Spur gekommen“, notierte Anders 1942 in seinem Tagebuch, „das es in der Vergangenheit nicht gegeben hat. Ich nenne es vorerst für mich 'Prometheische Scham‘.“

Anders' Analyse hat sich nicht nur bestätigt, sondern sogar verschärft: die Tatsache, daß die Anzahl von Schönheitsoperationen unentwegt zunimmt, gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie das jüngst diskutierte „Erlanger Experiment“. Konfrontiert mit den Ergebnissen unserer Konstruktionspläne, unserer blue prints und Ideen, sind wir laut Günther Anders mit dem „Vorstellen“ grundsätzlich überfordert: unser Denken „stellt nach“. Heute, am 19.12.1993, müssen wir uns zwei Ereignisse „nachstellen“: ein Stier namens „Herman“, im Labor hergestellt und mit einem menschlichen Gen versehen, wird bald Nachkommen zeugen. Und Günther Anders ist tot. Elke Schmitter Seite 16