■ Zum Verkauf ostdeutscher Wohnungen an die MieterInnen
: Entstaatlichung der Köpfe

Bekanntlich lebten die DDR- BürgerInnen jahrzehntelang zwar nicht gut, aber dennoch über ihre Verhältnisse. Sie zehrten von der Substanz. Was die SED als Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik euphemisierte, war die betrügerische Konkursverschleppung einer Gesellschaft mit offenbar recht beschränkter Haftung. Die Folgen wurden 1990 auf die Westdeutschen übergewälzt. Darüber ist nicht viel zu sagen, ein gewisser Fatalismus angebracht.

Das augenfälligste Beispiel für die Errungenschaften sozialistischer Gerechtigkeit ist der Zustand der ostdeutschen Häuser und Wohnungen. Von den billigen Mieten, dem vorsätzlichen Verzicht auf Sanierungs- und Modernisierungsrücklagen profitierten nicht die Bonzen in Wandlitz, sondern, wenn auch manchmal wider Willen, alle Ostdeutschen. Jahrzehntelang verkonsumierten sie die Differenz zwischen einer wirklich kostendeckenden und der aus Propagandagründen extrem niedrig gehaltenen tatsächlichen Miete. Auch darüber ist kein weiteres Wort zu verlieren.

Zu reden ist aber über die Begrenzung und die Perspektiven der Schadensabwicklung. Und dazu ließ Finanzminister Waigel vor einigen Wochen einen umstrittenen Vorschlag veröffentlichen: Die 3,5 Millionen ostdeutschen Wohnungen, die sich derzeit noch in kommunalem Eigentum befinden, sollen demnach den Mietern zum Preis von durchschnittlich 20.000 Mark plus 30.000 Mark für die notwendigsten Sanierungen zum Kauf angeboten werden; macht für jeden Käufer rund 400 Mark monatliche Zinsbelastung; vom Erlös sollen jene 50 Milliarden Mark Altschulden teilweise bezahlt werden, die die DDR-Wohnungswirtschaft an offenen Rechnungen hinterließ.

Die Idee hat ihre Haken: Einerseits ist die Situation in Rudolstadt mit der in Leipzig kaum vergleichbar, der Bodenwert einzelner Objekte und damit der später mögliche Verkaufsgewinn höchst unterschiedlich. Der Sanierungsaufwand differiert extrem. Andererseits müssen die Mieter die Möglichkeit haben, ihre Lebensperspektiven sorgfältig abzuwägen, die Entscheidungsalternative Mieter oder Eigentümer darf nicht in mehr oder weniger sanftem Kaufdruck erstickt werden. Das Angebot muß also über längere Zeit gelten, lokale Differenzierungen sind notwendig, auch ist es illusorisch zu meinen, daß auf diese Weise alle Probleme, die die DDR-Wohnungswirtschaft hinterließ, schnell vom Tisch zu räumen wären.

Dennoch enthält der Vorschlag vor allem einen vernünftigen Kern. Das interessante Moment besteht nicht in erster Linie in der schnelleren Tilgung der Altschulden, die Waigel erwartungsgemäß in den Vordergrund stellt, sondern in den sozialpsychologischen Effekten des Verkaufsangebots: Es trägt zur Responsabilisierung jedes einzelnen Ostdeutschen bei. Denn falls Waigels Vorschlag konkret werden sollte, dann sind die ostdeutschen Mieter in aller Freiheit gezwungen, „ja“ oder „nein“ zu sagen. Für beide Entscheidungen mag es im Einzelfall gute Gründe geben. Subjektiv formuliert und hinterher verantwortet werden sie jedoch nur angesichts der Waigelschen Herausforderung.

Die ersten öffentlichen Reaktionen bestanden in einem verdächtig einhelligen Protestgeschrei – nicht etwa der Adressaten, sondern der gesamten ehrenwerten Gesellschaft des wiedervereinigten Klientelismus und seiner publizistischen Organe von FAZ bis ND, von Handelsblatt bis Zeit: Der Verband der Wohnungswirtschaft nannte das Konzept „unrealistisch und irreal“; die vereinigten berlin- brandenburgischen Wohnungsunternehmen zeterten von einem „Lockangebot“, das die armen Mieter „mit dem Kauf mehrfach bestraft“; die Summen seien zu gering, um „die Plattenbauten auf Weststandard zu bringen“; das Neue Deutschland jammerte darüber, wie „bitter“ es sei, wenn sich „ältere Ostdeutsche zeitlebens verschulden müssen“, und behauptete, „der Bund will auf dem Wohnungsmarkt lediglich abkassieren“. Ganz ähnlich argumentierte der sogenannte wohnungspolitische Sprecher der SPD. Er wähnte einen „Anschlag auf die demokratisch legitimierte Wohnungswirtschaft“, sprach vom „Ausverkauf des Ostens“. Einzig und allein der Berliner Mieterverein formulierte – wenn auch ex negativo – das Problem adäquat: „Das Risiko der Bewirtschaftung“ gehe, falls der Waigel-Vorschlag verwirklicht würde, „auf die Käufer über“.

Genau! Ehemalige DDRler, die ihre Mietwohnungen kaufen, übernehmen Risiko. Sie sind dann gezwungen, sich Geld zusammenzuleihen, den Kauf eines neuen Autos, eine Reise zu verschieben; sie haben zu überlegen, ob sie mit ihren Nachbarn eine Eigentümergemeinschaft bilden wollen, welche Rechtsform die beste ist, wie die Verträge beschaffen sein sollen. Die potientiellen Käufer müssen unterschiedliche Wunschvorstellungen gegeneinander abwägen. Sie müssen sich über die Reduzierung der Heizkosten Gedanken machen und sich individuell fragen, wieviel Kubikmeter unsortierten Hausmüll sie pro Monat bezahlen wollen.

Sicher werden nach dem Verkauf der Wohnungen zusätzliche Förderprogramme zur Sanierung der Fassaden und Dächer aufgelegt werden müssen. Klar ist, daß die Westdeutschen immer noch reichlich dazubezahlen werden. Aber: Von den Ostdeutschen muß Eigenbeteiligung und Selbstverantwortung verlangt werden. An diesem Ziel sollte sich auch das Angebot orientieren. Es darf eben nicht von blanker Ökonomie ausgehen, sondern von der Überlegung, möglichst vielen ostdeutschen Mietern eine reale Entscheidung zwischen zwei Alternativen zu ermöglichen. Die von Waigel genannten 50.000 Mark pro Wohnung sind eine vernünftige, eben nicht von blinder Gewinnsucht getragene Diskussionsgrundlage. Erste Erfahrungen und Modellversuche rechtfertigen vorsichtigen Optimismus.

Das Ingangsetzen solcher Entscheidungsprozesse ist kein „Ausverkauf“, sondern mit dem politisch-wirtschaftlichen Angebot zum staatlich geförderten Kauf der Wohnungen durch die Mieter könnte ein Stück der gesellschaftlichen Differenzierungsblockade abgebaut werden. Denn der ebenso autoritäre wie abwartend- lustlose und verantwortungsfaule Sozialcharakter gehört zum folgenschwersten, höchst subjektiven Erbe des Sozialismus. Auch wenn das selten öffentlich thematisiert wird, so ist doch für alle Beteiligten offenkundig, daß die – ja nicht unverständliche – initiativlose und gleichgültige Lebenseinstellung vieler Menschen in Ostdeutschland das eigentliche Problem bildet: Sie hemmt die wirtschaftliche und politische Veränderung entscheidend.

Daher ist es richtig, wenn den Ostdeutschen – ohne Zwang, aber an einem zentralen Punkt ihrer Existenz – klargemacht wird, daß sie nicht bis ins nächste Jahrtausend auf Vater Staat warten können. Die Versorgungsmentalität und das Kollektivgejammere, der staatsfixierte Attentismus und die gesellschaftliche Starre müssen wenigstens teilweise gelöst werden. Das verlangt auf westdeutscher Seite Geduld, öffentliche und private Hilfestellung und auf ostdeutscher Seite – begrenzten – persönlichen Mut und Vertrauen in die eigene Kraft. Weil die Waigelsche Initiative den einzelnen erwachsenen Ex-DDRler individuell fordert, ist sie jedem – prinzipiell antiindividuellen – Manteltarifvertrag, jedem Generalsanierungsplan weit überlegen. Es geht nicht allein und nicht vor allem um eine Entstaatlichung der Wohnungswirtschaft, sondern um eine Entstaatlichung der Köpfe. Götz Aly