Erlesene Scherben

Robert Wilsons und Tom Waits' „Alice im Wunderland“ am Hamburger Thalia-Theater  ■ Von Lore Kleinert

Niemand kann eine Theaterwand in leuchtende Himmel verwandeln wie er, blau und grünlich und schweflig-rot, oder hinter Grotten und Höhlen künstliche Tage aufglühen lassen. Robert Wilson schenkt seiner Alice weite farbige Himmel und tiefe Nächte, Höllenfahrten und absurde Begegnungen mit seltsamen Wesen. Am Ende bleibt eine überdimensionale Spielzeugkiste: Wenn Alice, das Kind, mit der Stimme einer alten Frau klagt, leuchtet es feuerrot durch den Ausschnitt in der Holzwand. Brennt draußen die Welt?

Die Farben erzählen wieder ihre eigene Geschichte. Leuchtend rot ist der verhangene Höhlenraum, in dem Alice – unvermittelt erwachsen geworden im roten Samtkleid – auf einer Chaiselongue balanciert. Sie trinkt, Sekt oder Zaubertrank, und erzählt ihrer Katze, wie Mr. Dodgson sie als kleines Mädchen fotografiert habe. „Tränen stiegen mir in die Augen und Schreie in den Hals, aber ich hielt still...“ Eine Frau erinnert sich an das Mädchen im lavendelblauen Kinderkleid: Alice, am Ende für immer eingesperrt in den Träumen eines Mannes, der sie fotografiert hat, der sie erfand, sie in fremde Welten schickte. Diese Geschichte ist in das Muster der Inszenierung eingewebt, je nachdem, wie man das Kaleidoskop seiner Bilder betrachtet, sieht man sie oder sieht sie nicht.

Kaleidoskopen ist es eigen, daß ihre Bilder in Scherben zerfallen, sie halten nichts fest. Ein riesiger alter Fotoapparat schiebt sich quer über die Bühne auf das Mädchen zu. „Stock und steif, starr und still; ich mach' alles, was er will...“ Auf einem riesigen Spiegel zerfällt Alice' Name in Scherben. Sie formieren sich zum Tanz. Im Wunderland sucht das Mädchen seinem Namen und verliert ihn immer mehr: auch diese Geschichte ist nicht lustig. Das Kaleidoskop dreht sich, doch beim Verlassen des Theaters meinen etliche, die Raupe sei doch sehr lustig gewesen. Sie trohnt auf einem Pilz, ein kahler, weißer Kopf auf dicklich- grünem Seidenkörper (Jörg Holm). Wichtig redet sie über die vielfältigen Möglichkeiten des Wachstums – und wächst selber, bis ihr Ballon die gesamte Bühne ausfüllt. Auch Tweedledee und Tweedledum mit ihren roten Anzügen, hohen Krägen und Regenschirmen sind amüsant. Sie bestehen auf der Differenz der Umkehrung. Oder Humtydumty: Ein weißes Ei mit Kopf und Bein auf schräger Mauer, das so langsam herabsteigt und nicht zerbricht (Sven-Eric Bechtolf), oder das Strickende Schaf (Angelika Thomas), oder Fisch und Frosch, erkennbar durch nur Geräusche und wie aus dem Zeichentrickfilm entsprungen: sie alle verdienten, gepriesen zu werden, denn Charles Dodgson, der Linkshänder, „Master of The House“, Dozent für Logik und Mathematik, hat sich in der Maske des Lewis Carroll für Alice Pleasance Liddell, die Tochter seines Dekans, wundersame und witzige Geschöpfe ausgedacht, und Frieda Parmeggiani hat sie wundersam und witzig ausstaffiert. Das Reh mit dem verhüllten Kopf über nackter Schulter, dem Alice im Zauberwald der hingetuschten schwarzen Linien begegnet (Oana Solomonescu), macht sein Geweih nur durch einen Zweig in der Hand kenntlich. „Ein Mensch, ein Monster“, erkennt es und wehrt Alice' Annäherung erschreckt ab.

Die Katze hingegen mit den steilen Haaren und der frecchen Brille (Stephan Lohse im blauen Samtanzug) spielt anmutig mit den zerknüllten Liebesbriefen, die Dodgson an Alice schreiben will, stiehlt sie und befördert sie in die andere Welt. Dort werden sie Beweise im Prozeß der Schachkönigin, und das heißt: „Kopf ab.“ Der weiße Ritter, der Alice vom Kricketfeld der schwarzen Schachfiguren auf einer Schaukel hinter die Spiegel entführt, trägt Brustwehr und Visier wie aus weißem Papier. Stefan Kurt spielt ihn ebenso wie das weiße Kaninchen im Chiffonfrack und Mr. Charles Dodgson selbst. Am Ende wird allen dreien der Kopf abgeschlagen, nur Mr. Dodgson bleibt, verbrennt die Briefe, löscht die Erfindungen. „Ich habe fotografiert und die Zeit angehalten, aber nun geht sie weiter. Ich habe euch erfunden, und ich lasse euch verschwinden.“

Immer dann, wenn Wilson den Mr. Dodgson aufspürt, hinter den Spiegeln des Lewis Carroll, die beim Hindurchgehen kreischend und scheppernd zerspringen, gerät Verzweiflung in seine Bilderrätsel. Das aber will er mit allen Mitteln verhindern: mit den Songs, die manchmal Sehnsucht nach Tom Waits Stimme wecken, manchmal schräg und schmissig sind, etwa wenn Hutmacher, Märzhase und Haselmaus „We are all mad“ anstimmen oder Mönche ein heuchlerisch-lüsternes Duett zum besten geben. Meist aber sind sie, untermalt von vertrauten Klängen auf fremdartigen Instrumenten, nur Beigabe zu Wilsons Einfällen. Die aber haben es mit dem Grauen vor dem Sprach- und Namenlosen zu tun. In „Detah Destruction and Detroit“, den „Civil WarS“ oder „Quartett“ blieb die Grenze zum beliebigen Plündern der Geschichte und Mythen gewahrt. Doch anders auch als im „Black Rider“, diesem expressionistischen Musical, geht hier die Mischung nicht auf. Die Bilder wecken nur das Verlangen nach noch einfallsreicheren Tricks, nach dem absoluten Comic-Strip. Annette Paulmanns Schuld ist das nicht, sie hat ihrer Alice die Unsicherheit und Anmut eines kleinen Mädchens entlockt. Aber Wilson hat dahinter eine blutige Geschichte gewittert, und das geht nicht gut. Spielzeugfiguren zerbrechen, wenn das Uhrwerk überdreht wird: kein Kind kann sie wieder zum Leben erwecken. Wilsons Theater zerbricht, weil Text (Paul Schmidt von der „Wooster- Group“) und Musik (Tom Waits) und Schauspieler zu einem Spiel gehetzt werden, das keines mehr ist. Wilson weiß das von Anfang an: gleich zu Beginn schaut Dodgson im schwarzen Mantel und mit weißem Gesicht herausfordernd ins Publikum, gleich zehnfach. Am Ende löschen sich Carrolls Wunder und die Begehrlichkeiten des Mr. Dodgson gegenseitig aus. Das Wunderland, wo Carroll die „Gewaltherrschaft der Regeln“ (Christian Enzensberger) dem Gelächter preisgab, wird um sein Geheimnis betrogen, weil Wilson es nicht wirklich ernst nimmt; er beschränkt sich auf das erlesene Design der Kostüme auf dem Laufsteg der Bühne. Zugleich gibt er vor, mehr zu wissen, und liefert Alice dem Mr. Dodgson aus – um auch dessen Geschichte nicht zu erzählen. Die besserwisserische Pose des vermeintlich besseren Verführers, des Theatermagiers? Anstrengung macht sich bemerkbar, „Alice“ zerfällt wie die Scherben ihres Namens.

„Alice im Wunderland“. Regie: Robert Wilson, Musik: Tom Waits. Nächste Vorstellungen: 28./29.12.