Hoher Besuch im Spielzeugdorf

■ Eine kurze Geschichte von Mechthild Bausch

„Hör zu, Franklin“, begann Hans

Kakuschke an diesem Morgen seine Zwiesprache mit dem 32. Präsidenten der USA, dessen Konterfei in Glas gerahmt neben dem Küchenbecken hing. Er nahm den Rasierspiegel vom Haken und wandte sich von Roosevelt, der nun einsam Richtung Fenster blickte, seinem eigenen Spiegelbild zu. Was er darin sah, erschreckte ihn: Vom linken Mundwinkel bis zur runzeligen Krümmung des Kinns lief eine Spur von eingetrocknetem Eigelb. „Ol' man River“, summte der alte Mann, während er nach einem Lappen suchte. „Heute ist es soweit, Franklin“, sagte er dann feierlich, „dein Botschafter kommt.“

Zur gleichen Zeit rückte Marion

Löschner im Gemeindehaus von Seiffen die Stühle um den langen Tisch zurecht. Den Botschafter aus Bonn setzen wir ans Kopfende, überlegte sie, daneben den Bürgermeister, Hans Kakuschke auf die andere Seite... Durch das Fenster sah sie den Neffen vom alten Kakuschke auf dem Parkplatz auf- und abgehen. Er trug einen dunklen Anzug unter dem Wintermantel und eine flache Plastiktüte in der Hand. „Du Idiot“, murmelte sie, „du Zorn der Inzucht“.

Am frühen Morgen hatte ein feiner Eisregen eingesetzt. Es war Mittwoch und die Straßen ruhig im Spielzeugdorf, wie sich die Gemeinde im östlichen Erzgebirge seit jenen Generationen nannte, als die Bergmänner und ihre Familien nach Feierabend die ersten noch ungelenken Figuren aus dem Holz geschnitten hatten. Erst an den Wochenenden erwachte die Hauptstraße zum Leben. Dann schlidderten die Touristen aus Bayern, dem nahen Dresden und dem noch näheren Karl-Marx- Stadt, das seit einem Dreivierteljahr wieder Chemnitz hieß, die verschneiten Straßenbiegungen von der kleinen Barockkirche zum Spielzeugmuseum hinunter. Dann dampften die Glühwein-Kioske, blinkerten die Lichterketten und blühte wieder das Geschäft mit den Räuchermännchen, Nußknackern und Weihnachtspyramiden.

Weit weg in Deutschland war man auch jetzt in Seiffen. Aber damals vor einem Jahr, im November 1989, hatte Hans Kakuschke das 80. Lebensjahr schon überschritten und sofort reagiert. All seine Erinnerungen, die er ohnehin nicht mehr halten mochte, wichen jetzt den Bemühungen um die Ernte aus seiner unermeßlich langen Leidenschaft für die Vereinigten Staaten von Amerika. Noch im gleichen Monat, am 14. November, schickte er eine originale Seiffener Weihnachtspyramide an die Adresse des amerikanischen Botschafters in Bonn. Und erhob Franklin Roosevelt fortan zu seinem Zeugen.

Als Hans Kakuschke seinen Neffen von weitem auf dem Parkplatz vor dem Gemeindehaus stehen sah, bog der schwarze Chevrolet, eskortiert von zwei anderen nachtdunklen Limousinen, schon um die Ecke. Marion Löschner hörte das Knirschen der Reifen, preßte noch kurz die Fingerkuppen an die Schläfen und rief dann in Zimmerlautstärke nach dem Bürgermeister.

Der Botschafter, der dem Chevrolet entstieg, überragte seine Begleiter um Haupteslänge. Ein äußerst kräftiger Mann mit schlohweißem Schopf und robuster Gesichtsfarbe. Er sah aus, als sei das Leben nicht nur eine immerwährende Garten-Party, sondern als gebe es auch Menschen, die wie er dazu eingeladen sind.

Drei Männer bewegten sich jetzt im gleichen Moment auf den Botschafter zu. Der Repräsentant im grauen Zwirn, ein grobschlächtiger Mittvierziger mit einer Plastiktüte in der Hand, und, aus etwas größerer Entfernung, ein alter Mann, der, als er leise keuchend bei ihm angelangt war, sofort seine Hand zu ergreifen versuchte.

„Das ist Hans Kakuschke“, hob der Bürgermeister an, „der drittälteste Bürger von Seiffen.“ „Ich bin gekommen, um mich persönlich bei Ihnen zu bedanken“, richtete der Botschafter gleich das Wort an den alten Mann, der so klein war, als habe ihn die Erde, die ihn begraben müsse, schon ein wenig zu sich herabgezogen. An seinem Kinn klebte ein Klümpchen Eigelb.

Hans Kakuschke hatte das Gastgeschenk, einen Korb mit Weinflaschen, kalifornischen Walnüssen und zwei Gläsern Sirup, neben seinen Stuhl gestellt. „Florida ist genau 151 940 Quadratkilometer groß“, hielt er dem Botschafter entgegen, „und wurde im Jahre 1845 zum Bundesstaat der USA erhoben.“ Der Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika ließ ein dröhnendes Lachen vernehmen. „Thomas Jefferson war von 1789 bis 1793 erster Außenminister der USA“, plapperte der alte Mann weiter, und rückte auf seinem Stuhl so weit nach vorn, daß seine Schuhe den Boden berührten.

Der Botschafter schüttelte den Kopf. „Wunderbar. Sie sind ja eine wandelnde Enzyklopädie“, sagte er, die Worte mit milde gewordenem amerikanischem Akzent vor- und zurückrollend. „Waren Sie denn schon einmal in den Vereinigten Staaten?“ „Nein“, Hans

Kakuschke fuhr sich mit den Händen über die Knie, „noch nie“.

Der Bürgermeister mahnte zum Aufbruch. Mit den Worten „ohne daß der Herr Botschafter die erzgebirgische Küche gekostet hat, werden wir ihn nicht nach Dresden weiterfahren lassen“, erhob er sich. Als die Fahrer vor dem Gemeindehaus schon die Wagentüren öffneten, kam eine Frau mit wehenden Mantelschößen und einer breiten Schultertasche auf die Gruppe zugeeilt. „Wer ist denn nun der, der dem Botschafter das Geschenk geschickt hat?“, fragte sie den Nächststehenden, dem sie sich im zweiten Nebensatz als Presse-Fotografin aus der Landeshauptstadt vorstellte. „Mein Onkel, und es war eine Weihnachtspyramide“, der Mann wedelte mit einer Tüte. „Aber wir gehen jetzt Mittagessen.“

Hans Kakuschke war leider nicht im schwarzen Chevrolet mitgefahren, die Fotografin hatte sich mit den Worten „Ich komme zwar aus den alten Bundesländern, bin aber trotzdem noch nie im Leben Chevrolet gefahren“, auf den türkisgrün gepolsterten Rücksitz und neben den Botschafter sinken lassen. Dafür hatte man Kakuschke aber gleich die Tür zum Fond des schwarzen Mercedes aufgehalten.

In der „Grünen Hütte“ saß er jetzt dem Botschafter gegenüber. Über dessen Schulter hinweg sah er in den glitzernden Garten hinaus. Vor vielen Jahren, in den Sommern, als er noch jung gewesen war, hatte es hier Tanzabende gegeben. Sehr hell hatten die Kleider und Gesichter der Mädchen in der Dämmerung geleuchtet, wenn sie sich über den Bretterboden wirbeln ließen. Später, wenn es finster wurde und viele Gäste schon gegangen waren, flatterten in den Bäumen die Fledermäuse.

Das Lokal war leer bis auf die Gruppe mit dem Ehrengast, die der Wirt an den langen Tisch neben dem Kamin gesetzt hatte. „Hagebuttensuppe, eine erzgebirgische Spezialität“, pries er die Vorspeise beim Auftragen der ersten Teller an. Die Fotografin und einer der Chauffeure schoben das mit Kakao gewürzte Gericht, das aussah wie eine Mischung aus Ochsenblut und brauner Dispersionsfarbe, nach einigen Löffeln unauffällig von sich weg.

„Was halten Sie denn von der Idee, die Seiffener Christmette live im amerikanischen Fernsehen zu übertragen?“, fragte der Bürgermeister, dem, während er sprach, ein Hagebutten-Stückchen aus dem Mund sprang. „Wunderbar“, antwortete der Botschafter, wobei sich auch ihm ein Fruchtpartikel von den Lippen löste und auf das Tischtuch fiel.

„Der hat doch wohl nicht die Plastetüte beim Essen dabeigehabt“, empfing Marion Löschner ihren Chef. „Wer denn?“, fragte der Bürgermeister zurück.

„Hör zu, Franklin“, sagte Hans Kakuschke am Abend zu Mister Roosevelt. „Unsere Christmette kommt wohl ins Fernsehen, vielleicht haben wir bald eine Partnerstadt in den Vereinigten Staaten, und der Botschafter will versuchen, daß ein amerikanischer Geschäftsmann den Holzbetrieb Bartel rettet. Ist das nicht wunderbar?“