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Die Weihnachtsheldin

■ Ein Engel auf Erden: Eine kleine Hommage an die Weihnachtsheldin aus der Boettcherstraße

das Engelein

Es klingelt und bingelt, wuselt und wimmelt, engelt und himmelt um Hildegard H., aber wie ein tapferer kleiner Fels steht sie in der Brandung aus Rührung und Anhängern aller Art.

Von oben jubiliert der Engelein Chor, von drunten schaut Hildegard H. empor und bittet das liebe Jesulein um einen Strang Ersatz-Nerven. Schließlich steht sie seit dem 1. 10., was ja Anfang Oktober bedeutet, in der Weihnachts-und Verkaufsausstellung der Bremer Boettcherstraße und lächelt immer noch.

Und da steht sie nun, heute,

am letzten Tag, und hat Muskelkater in den Zähnen. Das kommt nicht nur vom Lächeln, sondern auch vom Engeleinchor, der eben jetzt von den Ohrmuscheln bis in Mark und Bein vorgedrungen ist. Aber kein Laut des Schreckens kommt über die Lippen der Heldin der Weihnacht und des Alltags, nein: umzingelt vom sentimentalen Sortiment, umschlungen von Kundenkraken rotiert sie standhaft wie ein Leuchtturm und weist den Weg zur Kasse und endlich zur Tür. Dabei wirft sie noch mit Blicken aller Art um sich, denn die siebenarmigen Kraken haben noch mehr Hände und viel Sinn fürs Drehen und Wenden von der 1000köpfigen Produktpalette.

Nein, wie niedlich!!, juchzt es von links hinten, und Hildegard H. weiß, warum: da stehen die Spieldosen mit gelben Sternlein auf blauem Grund, und oben drauf dreht sich eine Engelskapelle um einen Nikolaus und posaunt „Stille Nacht“ heraus. Vorne bei den Erzgebirglern fällt immer mal wieder ein Damenkränzchen ins Kindertraumdelirium und will aufgefangen werden. Und junge Männer fragen gerne nach diesem und jenem, Hauptsache, es ist nicht da. Neulich versank ob der Nußknackerparade eine Gruppe Amerikanerinnen im Meer der Verzückung und mußte reanimiert werden.

Ja, da heißt es, nicht bloß um Haltung ringen, sondern Leben retten, und wenn's das eigene ist. Manchmal, wenn die Chefin den Laden verließ, hat sich Hildegard H. unbefugt ihren Gefühlen überlassen und für ein paar Minuten den Engelschor abgestellt. Nachts hat sie davon geträumt, daß sie in den Himmel kommt und da war keiner. Aber jeden Morgen ging sie wieder an ihren Arbeitsplatz, ordnete den Rausch der Rauschgoldengel, sortierte neue Glöckchen in die Glöckchenfächer, holte die falschen Kügelchen aus den 27 Kügelchenfächern und stellte den Engelschor an.

Allein, wer freundlich war, der spürte, daß etwas um Hildegard H. schwebte, zart und fein. Und wer ein mitfühlendes Herz hatte, der sah: es war ein Heiligenschein. Claudia Kohlhase

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