„Ich verdiene die Todesstrafe“

Im Februar 1992 wurde der 21jährige Milorad Boschkov in der bulgarischen Bezirksstadt Vraca nach dem Mord an einem Polizisten zum Tod durch Erschießen verurteilt. Die Geschichte von einem, der Pech hatte  ■ Von Peter Dammann

„Ich bin seit sechs Monaten in Einzelhaft. Ich habe lange nicht mit einem Menschen gesprochen, Sie müssen Geduld haben“, beginnt Milorad Boschkov das Gespräch. „Die ersten vier Tage nach meiner Verhaftung habe ich nur an Selbstmord gedacht. Ich wollte alle Menschen, die mich in meinem Leben schlecht behandelt haben, verfluchen und dann vom Gefängnisdach springen. Mit einem Schwalbenschwung, wie ich ihn oft ins Wasser gemacht habe.“ Milorad sitzt bewegungslos vorgebeugt, als beobachte er seinen Sprung vom Dach, den er sich so oft ausgemalt hat. Nur die braunen Augen und sein nervöses Spiel mit meiner Visitenkarte verraten Anspannung.

Milorad gehört zu den insgesamt acht Häftlingen in bulgarischen Gefängnissen, die nach der politischen Wende – in alter Tradition des diktatorischen Systems – noch zum Tode verurteilt wurden. Allein von 1985 bis 1989 wurden im Balkanstaat rund 40 Menschen hingerichtet. Die Hinrichtungen sind seit 18 Monaten durch ein Moratorium ausgesetzt. Inzwischen fordern aber viele Abgeordnete des Regierungsbündnisses „Union der demokratischen Kräfte“ (UDK) die Aussetzung des Moratoriums. Sie wollen Menschenrechtsverletzungen durch Funktionsträger der alten Diktatur mit der Todesstrafe ahnden. Außerdem soll die Todesstrafe die zunehmende Kriminalität eindämmen.

JournalistInnen, die in der aufgeheizten Atmosphäre gegen die Todesstrafe auftraten, wurden mit anonymen Briefen bedroht. Der Generalstaatsanwalt weigerte sich, ihnen weitere Interviews zu geben. Ein Abgeordneter der UDK, Jurist und Mitglied im Rechtsausschuß des Parlaments, behauptet, daß der Kampf gegen die Todesstrafe nur eine Sache der Intellektuellen sei. Er dürfe seine Wähler nicht enttäuschen. Meinungsumfragen ergaben, daß 90 Prozent der Bulgaren für die Todesstrafe sind; selbst unter Juristen sind nur vier Prozent gegen staatliche Hinrichtungen.

Wir sitzen im holzgetäfelten, nach kaltem Zigarettenrauch stinkenden Besuchsraum, in dem die Häftlinge ihre Anwälte treffen. Das Inventar im düsteren Neun- Quadratmeter-Zimmer besteht aus zwei Tischen, vier Hockern, einer Glühbirne, einer Fensterklappe in drei Metern Höhe und einem dreckigen Steinaschenbecher. Ein junger Strafvollzugsbeamter spielt zwischen den fest installierten Tischen mit seinem weißen Gummiknüppel. Draußen auf dem neonbeleuchteten Flur hallen die Schritte metallbeschlagener Sohlen, im Raum summt eine Fliege, die immer wieder gegen das Glas der Fensterklappe knallt.

Langsam, mit monotoner Stimme und langen Pausen, erzählt Milorad Boschkov sein kurzes, endloses Leben. In seinem Dorf lebte er von klein auf in ständiger Angst vor den Schlägen seines Vaters, der Alkoholiker war. Als schreibe er an einem Drehbuch – völlig unbeteiligt berichtet er von einem Mordversuch des Vaters an der Mutter, dessen Zeuge er als Sechsjähriger wurde: „Er schlug mit dem Beil von links an den Hals der Mutter. Das Blut spritzte gegen die Wände. Sie lief blutend und schreiend auf die Dorfstraße.“

Den späteren Selbstmordversuch seines Vaters, die Verurteilung seiner Mutter zu acht Jahren Gefängnis für die Unterschlagung von Schafen der LPG, aber auch seine Begeisterung fürs Traktorfahren, für sein erstes Moped und seine frühere Liebe zu Motoren, er beschreibt diese Ereignisse und Gefühle in allen Details.

Als seine Mutter im Gefängnis saß, holte der Vater sich eine Roma als Geliebte ins Haus. Sie brachte ihre ganze Familie mit. Sie hat Milorad gehaßt und verhext. Mit neun Jahren flüchtete er von zu Hause und lebte von Obst- und Gemüsediebstählen im Dorf: „Sie nannten mich Katze, weil ich so schnell auf Bäume klettern konnte.“ Er war völlig verwildert, als ihn seine Halbschwester aus der ersten Ehe seiner Mutter fand. „Wo hast du deine Schuhe?“ fragte sie den elfjährigen Milorad. „Ich guckte an mir herunter, es hatte geregnet, und der Boden war schlammig. Ich war in einem erbärmlichen Zustand, ich wußte nicht einmal, ob ich Schuhe besaß.“ Die Schwester brachte ihn in ein Kinderheim. Dort wurde er eingesperrt und geschlagen. Er verlor seine Freiheit, die er durch die Vernachlässigung seiner Eltern schätzen gelernt hatte. Mehrmals floh er in die Wälder, wurde aber immer wieder eingefangen. „Nie wurde ich im Kinderheim besucht. Sie haben mich verlassen und vergessen. Ich habe über den Sinn nachgedacht, warum Menschen geboren werden.“

Immer neue Demütigungen kommen ihm in den Sinn. Jede Episode beschließt er mit dem Satz: „Das fand ich ungerecht.“ Nach der Zeit im Kinderheim lebte er zwei Jahre bei einer Tante und einem Onkel in der Küstenstadt Vrana. Dann wurde seine Mutter aus dem Gefängnis entlassen. Milorad zog zu ihr und einem Stiefvater, den er nicht mochte. Seine schulischen Leistungen waren überdurchschnittlich gut, so daß er nebenbei arbeiten konnte, um sich ein Motorrad zu kaufen. Damit war er der Star unter den Jugendlichen im Dorf und bekam die Anerkennung, die ihm als Kind in der Familie und im Heim versagt wurde. Er war verrückt nach Motorrädern, arbeitete in den Ferien, um sich immer größere Maschinen zu kaufen. In der 11. Klasse besuchte er eine Berufsschule für Kraftfahrzeugtechnik und wurde Mitglied des Blasorchesters. Da er ein guter Schüler war, wurde er von den Lehrern zum Komsomolsekretär bestimmt: „In dieser Zeit wurde mir bewußt, daß ich doch einige gute Eigenschaften habe.“ Er legt den Kopf schief, zieht die Mundwinkel nach oben und schnaubt durch die Nase. Mit seinem dunklen Zwei- Zentimeter-Schnauzbart unter der Nase sieht er dabei wie ein verlegener Charly Chaplin aus.

Seine erste Bekanntschaft mit der Miliz machte Milorad an dem Tag, als er gerade den Führerschein bekommen und dann mit einem Freund für dessen Fahrprüfung geübt hatte. Sie wurden von einer Milizkontrolle angehalten. Um seinen Freund zu schützen, zeigte Milorad seinen Führerschein, obwohl er gar nicht gefahren war. „Der verdient seinen Führerschein noch nicht“, urteilten die Milizionäre und konfiszierten die Fahrerlaubnis für mehrere Wochen.

Als Milorad sich neben seinem ersten Motorrad in tagelanger Arbeit aus Einzelteilen eine zweite Maschine zusammengebaut und sie gegen ein richtiges Rennmotorrad getauscht hatte, hielten eines Tages ein Milizauto und ein mit Motorrädern beladener Lastwagen vor der Haustür. Die Milizionäre durchsuchten das Haus und verlangten die Papiere für die Motorräder. Milorad erzählte von dem Tausch und daß er die Papiere für die neue Maschine noch bekommen sollte. Aber die Polizisten glaubten ihm nicht – die eingetauschte Maschine war als gestohlen gemeldet. „Sie brüllten wie die Bestien und schlugen mich mit drei Mann zusammen: Der erste schlug mich mit einer großen Zange auf die Brust, der zweite hämmerte mit Nummernschildern auf meinen Kopf, und der dritte trat mich mit den Füßen. Ich kann mich noch genau an die Gesichter erinnern.“ Sie beschlagnahmten beide Motorräder – obwohl die Papiere für die erste Maschine in Ordnung waren– und brachten Milorad auf das Polizeirevier. Dort wurde er wieder geschlagen, bis sich, nach dem Verhör des Mannes, mit dem Milorad die Motorräder getauscht hatte, seine Unschuld herausstellte. Er wurde nachts, ohne Geld, dreißig Kilometer von seinem Dorf entfernt, entlassen. „Das war für mich eine große Enttäuschung. Sie hatten kein Recht, mir beide Maschinen wegzunehmen, für die ich so viel gearbeitet, von denen ich so lange geträumt hatte.“

Milorads Erzählung springt immer wieder zwei, drei Jahre zurück, als wolle er das Schreckliche, seinen Mord an einem Milizionär, aufschieben. Er müsse so ausführlich sein, weil die Wurzeln eines Mordes zeitlich immer weit zurücklägen, verteidigt er sich gegen meine Ungeduld: „Nur noch drei Jahre, dann bin ich ein Mörder.“

Milorad war 18, als er zum Militär eingezogen wurde. Dort fiel ihm das Leben schwer. Er war es gewohnt, sein eigener Herr zu sein. „Jetzt gab es auf einmal so viele Befehle, selbst die Soldaten, die erst ein Jahr dort waren, schikanierten uns mit unsinnigen Befehlen.“ Ein Freund von ihm hielt es nicht aus, schoß sich in den Bauch, überlebte den Selbstmordversuch aber. „Nachts flossen meine Tränen, ich hatte solches Heimweh, ich zählte die Tage.“

Aus einem militärischen Betrieb für Altstoffverwertung mußte Milorad für seine Offiziere auf Bestellung stehlen. Wenn er das Gewünschte lieferte, bekam er Extra- Urlaub. Einmal baten ihn Freunde, bei einem Motorraddiebstahl zu helfen. Milorad sollte erst Schmiere stehen und dann den Motor in die defekte Maschine der Freunde einbauen. „Ich war der Meinung, daß es nicht richtig ist, einem armen Mann das Motorrad zu stehlen. Ich wußte ja, wie das ist, wenn man sein Motorrad verliert.“ Aber seine Freunde beruhigten ihn. Der Motorradbesitzer sei ein böser Mann, der den Verlust seiner Maschine verdient habe. Schließlich überredeten sie Milorad, ihnen zu helfen. Durch den Umbau des Motors aus der gestohlenen Maschine kam er zu spät zum Dienst und wurde zum ersten Mal mit drei Tagen Arrest bestraft. „In meiner Militärzeit lernte ich uniformierte Menschen hassen“, beschließt er dieses Kapitel seines Lebens, als die erste Besuchszeit beendet ist.

Als wir ankündigen, daß wir am Wochenende sein Dorf besuchen wollen, sagt Milorad hastig: „Ich habe Ihnen noch nicht erzählt, daß ich Vater geworden bin. Ich habe im Irrenhaus davon erfahren, als ich vor dem Prozeß dort untersucht wurde. Es war für mich wie ein Blitzschlag, als ich hörte, daß meine Freundin schwanger ist – wir hatten uns zwei Monate vor der Tat getrennt.“

„Man sieht gleich, daß er kein Mörder ist“, sagt der gutmütige Vollzugsbeamte Christo Tufanow, nachdem er ihn in den Sicherheitstrakt gebracht hat. Tufanow hat die letzten drei Stunden mit uns im Raum gesessen und kennt Milorad seit sechs Monaten. „Wenn ich ihn erschießen müßte, würde ich lieber kündigen.“ Im Gefängnis gibt es einen Hinrichtungsraum, mit einem Schlauch, um das Blut wegzuspülen. Er sei, wie neunzig Prozent seiner Kollegen, gegen die Todesstrafe, sagt Tufanow.

Nördlich von Sofia, hinter dem fünfzig Kilometer breiten Balkangebirge, liegt das Donauhügelland. Auf den Maisfeldern hacken Frauen in Kopftüchern den staubigen Boden, die Sonnenblumenfelder leuchten gelb, Schafherden grasen. Die Landstraße ist von violetten Ackerdisteln, scharlachrotem Klatschmohn, vereinzelten Sonnenblumen und ockergelb blühendem Fingerhut gesäumt. Holzrädrige Eselskarren verkehren zwischen den Dörfern. Vor Galitsche, Milorads kleinem Heimatdorf, überqueren wir eine holprige Brücke. Neben uns hält ein klappriger Lada-Geländewagen, ein bärtiger Mann springt heraus. „Wir haben Sie schon lange gesehen, das Dorf hat tausend Augen“, sagt er zur Begrüßung. Er ist der Vorsitzende der dörflichen LPG und fährt mich zu Milorads 19jähriger Freundin Walja und ihrer neun Monate alten Tochter Mariella.

„Er ist kein Mörder“, flüstert die Mutter von Walja mir zu. Der Schwiegersohn des getöteten Polizisten sei aktiver Widerstandskämpfer und später Minister gewesen. Der habe die Richter bestochen. „Milorad kann es nicht gewesen sein“, stimmt Walja zu. „Er war das Herz und die Seele unserer Clique. Oft hat er den Clown gemacht, um uns alle aufzumuntern.“ „Und jetzt werden alle sagen, Mariella sei das Kind eines Mörders“, beginnt die Mutter von Walja zu schluchzen. Gestern beim Brotholen im Laden habe man Walja beleidigt, ihr gesagt, daß sie ein uneheliches Kind habe. Da Walja und Milorad nicht verheiratet sind, darf Walja ihn nicht besuchen. Seine Tochter Mariella kennt Milorad bislang nur vom Foto.

Milorads Mutter wohnt in einem ärmlichen Haus. Ein Stück Schafskäse vergammelt auf dem Tisch der Wohnstube, die gleichzeitig Schlafzimmer ist. Die kräftige Zwei- Zentner-Frau riecht nach dem Schweiß der Feldarbeit und hat ein verwirrtes Grinsen im Gesicht. „Hier ist sein Zimmer“, sagt sie und führt mich in den Nebenraum. „Da sind sein Motorradhelm, seine Ziehharmonika und sein Fotoalbum.“ Während sie mir die Schwarzweißbilder zeigt, erzählt sie, daß sie an den Präsidenten Schelju Schelew geschrieben habe. Sie wolle die Leiche Milorads. Sie wolle nicht, daß die Leiche verschwindet, wie es mit vielen Ermordeten aus den Internierungslagern passiert sei. „Wenn ich den Tag der Hinrichtung wüßte, dann würde ich mich vor die Tür des Präsidenten setzen. Ich würde mich nicht rühren, bis ich die Erlaubnis bekommen, meinen Sohn zu begraben.“ So unfaßbar es ist, daß die Mutter ihren Sohn schon aufgegeben hat, so schmerzlich ist es, die verzweifelte, weinende Frau zu sehen. „Wissen Sie, daß mein Sohn schon seit sechs Monaten keinen Hofgang hat?“ – er habe schon Flecken auf der Haut, weil er nicht genug Tageslicht bekomme. Er brauche Vitamine, aber die Gefängnisbeamten hätten ihr bei der Durchsuchung im Gefängnis die Vitamintabletten abgenommen. „Wollen Sie ihn vergiften?“ fragten sie.

„Ich bestehe auf der Hinrichtung des Mörders“, ist ihr erster Satz. Die Witwe des Polizisten wohnt mit ihrem siebenjährigen Sohn im Nachbardorf. Noch fünfzehn Monate nach dem Tod ihres Mannes trägt sie ein schwarzes Kleid. Die Todesanzeige des Polizisten klebt – durch Plastikfolien geschützt – gleich dreimal auf dem Gartentor ihres Hauses. Ihr Mann sei erst zwei Jahre bei der Miliz gewesen, erzählt sie auf dem Weg zum Friedhof. Vorher sei er Feuerwehrmann im Atomkraftwerk Kosludui gewesen. Sie selbst arbeite im Busbahnhof der Kleinstadt Bjala Slatina, dort verkaufe sie Fahrkarten. Dort habe sie ihren Mann auch zuletzt lebend gesehen, als er ihr den Jungen vorbeibrachte, bevor er zum Dienst fuhr. Sie erinnere sich noch genau, wie er sagte: „Jetzt, bei der falsch verstandenen Demokratie, kann jeder machen, was er will. Niemand hört mehr auf die Polizei.“

„Sehen Sie, sogar der Maschendraht vom Friedhofszaun wurde gestohlen“, zeigt sie auf die unverbundenen Zementpfähle. Mit Milorad habe sie kein Mitleid. „Bei dem Prozeß hat er sich so unverschämt verhalten. Er hat nicht geleugnet und gefordert, ihn auch zu töten. Dabei wußte er doch, daß es ein Moratorium gibt, daß er nicht hingerichtet werden kann“, weint die Witwe, auf den hellen Marmorgrabstein ihres Mannes gelehnt.

Beim zweiten Besuch springt Milorad von seiner Strohmatratze auf, als die Zellentür 317 geöffnet wird: „Ich habe eine Taube für Sie. Ich habe sie mit einer Schlinge am Fenster gefangen. Ich habe ihr Kekse gegeben und sie mit einem blauen Faden am Bein markiert.“ Vorsichtig holt er die Taube aus einem Pappkarton, streichelt sie und läßt sie durch die Gitterstäbe des Fensters wieder in die Freiheit fliegen.

Seit sechs Monaten verbringt Milorad seine Tage auf dem Fußboden einer 1,80 mal 3 Meter kleinen Zelle – ohne Bettgestell, Tisch und Stuhl. Nur zweimal am Tag wird er zehn Schritte durch den dunklen Flur des Sicherheitstraktes in einen gekachelten Raum gebracht. Dort wäscht er sich und kippt den roten Plastikeimer – seine Zellentoilette – aus. Duschen ist nur einmal in der Woche erlaubt. Jeder Besuch muß vom zuständigen Staatsanwalt genehmigt werden. Die Bibel und eine Blockflöte, die er sich gewünscht hatte, wurden von den Beamten beschlagnahmt. Ein täglicher Hofgang wird ihm aufgrund einer Verordnung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei verweigert, die 1982 unter dem Titel „Verfügung zur Erhöhung der Effektivität des Freiheitsentzuges“ in Kraft trat und bis heute nicht aufgehoben wurde. „Ich habe Angst, hier durchzudrehen. Manchmal klettere ich wie ein Affe die Wände hoch, um meinen Körper zu trainieren“, sagt Milorad. „Einige Vollzugsbeamte wollen mir sogar verbieten, aus dem Fenster zu sehen. Das ist mein einziger Kontakt zur Außenwelt.“

Zu seinem persönlichen Besitz gehört eine Ausgabe der bulgarischen Wochenzeitung Die Zeit. „Schrecken im Gefängnis von Vraca“ ist der Titel eines Artikels auf der ersten Seite, der über Milorads Prozeß berichtet: Nachdem Milorad, mit Handschellen gefesselt, in eine Einzelzelle gesperrt worden war, wurde er fünfzehn Stunden von Polizisten zusammengeschlagen. Am folgenden Tag der Urteilsverkündung war Milorads Gesicht nur noch eine blutige Masse. Schon nach seiner Verhaftung war er unmenschlichen Folterungen ausgesetzt gewesen, so daß er zur Untersuchungshaft nach Sofia verlegt wurde. Es war nicht sicher, ob er sonst bis zum Prozeß überlebt hätte. Im Gerichtssaal trugen die Kollegen des erschossenen Polizisten demonstrativ ihre Waffen und kündigten in aller Öffentlichkeit ihre Rache an: „Glaube ja nicht, daß du es nicht wiederbekommst, heute abend wirst du was erleben.“

„Ich weiß nicht, ob Sie es wissen. Ich habe im Prozeß für mich die Todesstrafe gefordert. Ich hatte lange Zeit, über mein Verbrechen nachzudenken. Ich verdiene keine lebenslange Haft, ich verdiene die Todesstrafe“, unterbricht Milorad meine Lektüre des Artikels über seinen Prozeß. Trotzdem ist er in Berufung gegangen – seiner Mutter zuliebe. Er wünsche sich einen gerechten Prozeß vor dem höchsten Gericht. Selbst die Voruntersuchungen zum ersten Prozeß seien eine Farce gewesen. Seinen Anwalt habe er nur zweimal vor dem ersten Prozeß gesehen, jeweils für fünf Minuten, danach nie wieder. Der Untersuchungsrichter habe ihn ohne einen Anwalt vernommen und bedroht. Nicht einen Antrag habe der Anwalt geschrieben, um Milorads Haftbedingungen zu verbessern. Fünf Monate alte Anfragen von amnesty international zu den Menschenrechtsverletzungen an Milorad blieben bis heute unbeantwortet.

Eine mögliche Umwandlung des Todesurteils in lebenslängliche Haft hält Milorad für einen Bärendienst. Bei einer lebenslangen Strafe habe er in den bulgarischen Gefängnissen keine Chance, ein Mensch zu bleiben: „Ich will nicht als Bestie entlassen werden.“

Zurück im Besuchsraum für Anwälte berichtet Milorad, jetzt in aufgewühlter Stimmung und mit den Händen auf dem Tisch gestikulierend, von seinem Mord: Aufgrund einer Krise gab es im Frühling 1991 in Bulgarien kein Benzin. Milorad zapfte deshalb zweimal im Monat zehn Liter aus den Tanks geparkter Lkws, um mit seinem Motorrad fahren zu können. Als er in der Nacht zum 16. April mit zwei Freunden und Benzinkanistern in der Kleinstadt Bjala Slatina unterwegs war, sahen sie, daß der Lkw- Parkplatz mit Hunden bewacht wurde. Sie wollten deshalb lieber ein andermal Benzin stehlen.

Milorad hatte eine Pistole dabei, die ein Freund ihm zur Aufbewahrung gegeben hatte. „Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum ich die Waffe einsteckte. Vielleicht, weil ich Minderwertigkeitskomplexe habe und die Pistole mir Mut gibt? Ich weiß es nicht. Ich wollte nicht schießen.“

Auf ihrem Rückweg wurden die überraschten Jungen mit ihren leeren Kanistern von der Polizei verhaftet. Sie wurden nicht durchsucht und mußten sich auf die hintere Bank eines Streifenwagens setzen. Der Wagen fuhr langsam zur Polizeiwache der Kleinstadt. „An meine Pistole habe ich in diesem Moment nicht gedacht, ich hatte sie vergessen“, betont Milorad. „Beinahe hätten wir euch schon gestern beim Benzinklauen geschnappt. Wir haben auf euch geschossen, aber ihr seid uns in der Dunkelheit entwischt“, triumphierten die Polizisten im Auto. Da wußte Milorad – er war seit Wochen nicht in der Stadt gewesen– daß die Polizei sie mit anderen Benzindieben verwechselte und daß man sie beim Verhör in der Polizeiwache so lange schlagen würde, bis sie jedes Geständnis unterschrieben. Die Erwähnung der Schießerei erinnerte Milorad an die Pistole unter seiner Jacke. Er wollte sie verstecken und zog sie deshalb vorsichtig heraus, aber der Beifahrer sah einen Lichtreflex auf dem Nickellauf der Waffe. „In dem Moment drehte ich durch. Ich habe geladen und geschossen. Erst auf den Beifahrer, dann auf den Fahrer. Ich traf sie in die Schulter. Es war wie im Traum, ich bekam Ohrensausen, ich hörte nichts mehr.“ Ein angeschossener Polizist überlebte, der zweite verblutete. Milorad wurde am nächsten Morgen verhaftet. Er war verwirrt und geschockt nach Hause geflohen und in seinem Bett mit der Pistole eingeschlafen.

In einer fünfminütigen Verhandlung bestätigte das Gericht nach unserem Gespräch die Todesstrafe für Milorad. Wann die Berufungsverhandlung stattfindet, ist noch offen. Wird die Todesstrafe auch hier bestätigt, schützt Milorad nur noch das Moratorium, das die Regierungskoalition wahrscheinlich aufheben wird. Sollte Milorad dann nicht vom Präsidenten zu dreißig Jahren Haft „begnadigt“ werden, wird er hingerichtet.