■ Kriegsdienstverweigerung – heute der richtige Entscheid?
: Auf Leben und Tod

Ich werde ihn nie vergessen. Drei Jahre lang lehrte er uns Elekrotechnik an einer Berufsschule. Manchmal, wenn wir trotz seiner bildhaften Sprache über die Wirkungsweise des Elektromagnetismus wieder einmal nur Bahnhof verstanden, wurde er ganz still. „Jungs“, sagte Heinrich Nagel dann, „eigentlich ist das ja auch gar nicht so wichtig. Wichtig ist nur die Politik, denn da wird entschieden, ob euch der Kopf abgeschlagen wird oder nicht.“ Mit solchen Sätzen suchte Heinrich Nagel, im Gesicht von einer schweren Kriegsverletzung gezeichnet, unsere Sinne für existentielle Fragen zu schärfen. Er wollte seine 15- bis 18jährigen Schüler zu berufstauglichen Technikern ausbilden, nicht aber zu technischen Idioten. Gewiß hat auch Heinrich Nagel dazu beigetragen, daß ich sehr früh den Entschluß faßte, niemals in einer Armee zu dienen. Niemals? Ja, eher wäre ich in den Knast gegangen als zur Bundeswehr. Zunächst trieb mich der prinzipielle Glaube an den Pazifismus zur Kriegsdienstverweigerung: Ohne Soldaten keinen Krieg, Friede auf Erden durch Gewaltfreiheit, das fand ich bestechend. Zweifel reiften schnell. Gewaltfreiheit auch für „Die Verdammten dieser Erde“ als politische Strategie? Daran glaubte ich spätestens nach der Lektüre des gleichnamigen Buches von Frantz Fanon nicht mehr. Meinem Entschluß zur Kriegsdienstverweigerung konnte die gedankliche Abkehr vom prinzipiellen Pazifismus indes nichts anhaben. Im Gegenteil! Dieser Bundeswehr nicht zu dienen, fühlte ich mich bestärkt. Der Abschreckungsdoktrin galt mein ganzes Mißtrauen, und die damalige Nato-Strategie des flexible response, die vorsah, im Kriegsfall der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes mit taktischen Atomwaffen zu begegnen, hielt ich für verbrecherisch. Verweigern wollte ich mich aber auch einer westdeutschen Offizierselite, einer Generalität, die ihr Handwerk in der faschistischen Wehrmacht gelernt und die sich bis zum Ende in Treue fest den verbrecherischen nationalsozialistischen Kriegszielen hingegeben hatte. Deutsche Deserteure, das waren meine Helden.

Und heute? Gilt das „Niemals“ von 1966 noch? Ich habe den Kriegsdienst nicht verweigert, weil ich nicht gewollt hätte, meinen Teil dazu beizutragen, einem faschistischen Aggressor entgegenzutreten. Ich habe auch nicht verweigert, weil ich nicht gewollt hätte, mich „ethnischen Säuberungen“ oder Massenvergewaltigungen entgegenzustellen. Ohne die alliierten Armeen, ohne die Zerschlagung der Armee unserer Väter wäre der deutsche Faschismus nicht gefallen, loderte das Feuer weiter in den Verbrennungsöfen deutscher Konzentrationslager. Wir, die Nachgeborenen des nationalsozialistischen Deutschlands sind von außen befreit worden, leben – weil Millionen von Menschen im Kampf gegen unsere Väter ihr Leben geopfert haben – seither wie auf einer Insel der Seligen. Und das soll offenbar auch so bleiben, jedenfalls dann, wenn es nach dem Willen eines Großteils der deutschen Linken oder der Friedensbewegung geht.

Muslime werden von großserbischen Rassisten systematisch vernichtet – wir schicken Geld. Pol Pots terroristische Menschenschinder bekämpfen den Friedensprozeß in Kambodscha – wir schicken bestenfalls Sanitäter in Uniform. Irakische Kurden flüchten vor Saddam Hussein zu Hunderttausenden aus ihren Städten in die kurdischen Berge – wir schicken Wolldecken. In ihre Häuser und zerstörten Dörfer zurück konnten die Geflohenen erst, nachdem die Alliierten eine Schutzzone einrichteten und Hussein so daran hinderten, in den kurdischen Teil des Iraks mit seinen Kampfbombern und Hubschraubern einzufallen. An dem Tag, an dem der durch Kampfflugzeuge der Alliierten sichergestellte Schutz wegfiele, begänne das Flüchtlingselend der irakischen Kurden erneut. Wir können dann wieder Decken schicken.

Müssen unbedingt deutsche Soldaten im Irak, in Kambodscha, Somalia, dem ehemaligen Jugoslawien oder an irgendeinem anderen Ort dabei sein, wenn es darum geht, im Auftrag der Vereinten Nationen Aggressoren entgegenzutreten? Nein, nicht automatisch, nicht überall, aber dann, wenn es von den Bedrohten und der UNO gewünscht wird. Nicht, um im Konzert der Führungsmächte voll mitspielen zu können – quasi als Demonstration der wiedererlangten Souveränität, was nicht wenige Konservative bezwecken –, sondern als Beistand für Menschen, die mit Tod und Terror von übermächtigen Aggressoren bedroht werden. Solcher Beistand muß die Bereitschaft zu aktiven Kampfeinsätzen einschließen. Sollte das Grundgesetz uns daran hindern, bedrohten Völkern beizustehen, muß es geändert werden. Wer nicht der radikal pazifistischen Position der strikten Gewaltfreiheit anhängt, kann sich dem nicht verschließen. Eine Linke, die dazu nein sagt, verrät ihre besten Traditionen und verabschiedet sich zugleich von der Zukunft.

Gewiß, man kann der herrschenden Politik der westlichen Führungsmächte mit allem Recht vorwerfen, die meisten der Konfliktherde durch die eigene Politik erst geschaffen zu haben. Nur, der Hinweis auf die verbrecherische Waffenexportpolitik der Industriestaaten nutzt den irakischen Kurden heute nichts. Sie müssen geschützt werden, um überleben zu können. Der Verweis auf das präventive Versagen der Europäischen Gemeinschaft im Jugoslawienkonflikt hilft den von großserbischen Rassisten bedrohten Muslimen in Bosnien-Herzegowina nichts. Man muß das eine tun, z.B. jetzt im Kosovo und Mazedonien präventiv starke Blauhelmtruppen stationieren, aber man darf das andere nicht lassen. Jürgen Link, Sprachwissenschaftler aus Bochum und ein aktiver Streiter der Friedensbewegung, hat jüngst erst wieder in der Frankfurter Rundschau ein flammendes Plädoyer für ein rein defensives UNO-Blauhelm-Korps geschrieben. Link freut sich darüber, daß laut Umfragen eine breite Mehrheit der Bevölkerung „Kampfeinsätze“ der Bundeswehr ablehnen und der Schwenk der SPD-Parteispitze hin zur Zustimmung solcher Einsätze „die Verweigerungszahl in Höhen wie beim Golfkrieg“ habe schnellen lassen. Darüber könnte ich mich nur dann freuen, wenn sich darin die Ablehnung von imperialistischer Gewalt, von Eroberungs- und Aggressionskriegen manifestierte. Glaubt das irgend jemand? Nein, in solchen Stimmungsbildern äußert sich das bequeme „Weiter so Deutschland“, hier artikuliert sich der Wunsch von besorgten Eltern und potentiellen Soldaten, die Zeit des glückseligen Inseldaseins noch etwas in die Zukunft zu verlängern. Ich hasse den Krieg und fürchte den Tod, aber wenn eine Armee nach mir riefe, um eine rassistische Vernichtungspolitik zu bekämpfen, könnte ich nicht nein sagen und guten Gewissens meinem Sohn nicht zur Kriegsdienstverweigerung raten – obgleich ich wahnsinnige Angst um ihn hätte. Walter Jakobs