: „Da haben wir ein Problem“
Wie Israelis das tägliche Leben meistern/ Über die Normalität im jüdischen Staat ■ Von Henryk M. Broder
Bestellt man in einem israelischen Lokal ein Essen – sagen wir: eine Vorspeise, eine Suppe und ein Hauptgericht –, wird der Kellner, sobald er die Bestellung aufgenommen hat, nicht „danke“, „das wär's?“ oder „möchten Sie vielleicht Reis anstelle der Kartoffeln haben?“ sagen. Nein, er wird kurz die Augenbrauen hochziehen und den Vorgang mit zwei Worten abschließen: Ejn baja. Kein Problem. Dieselben zwei Worte hört man, wenn man den Tankwart bittet, den Wagen vollzutanken, oder auf einem Postamt ein Fax abschicken möchte. Ejn baja. Kein Problem.
Natürlich gibt es genug Hühnerschnitzel, es herrscht kein Mangel an Benzin, und die Postbeamten, die früher nur Briefmarken verkauften, können inzwischen ein Fax-Gerät von einem Toaster unterscheiden. Die allgegenwärtige Versicherung, dies oder das wäre kein Problem, zeugt von der unbewußten Annahme des Gegenteils. Eigentlich müßte es ein Problem sein, ein Essen zu bekommen, vollzutanken und einen Telebrief zu expedieren. Denn nur, wenn er es mit einem Problem zu tun hat, kann der Israeli beweisen, daß er die Tücken des Lebens meistern kann. Ein Dasein ohne Schwierigkeiten, die bewältigt, ohne Hindernisse, die überwunden werden müssen, ist – nach 2.000 Jahren Überlebenstraining – keine angemessene Form der Existenz.
Jesch lanu baja – da haben wir ein Problem, ist der Lieblingssatz eines echten Israeli, egal ob ihm mitten auf der Autobahn ein Keilriemen gerissen, seine Frau mit seinem besten Freund davongelaufen oder das Dach über dem Kopf weggeflogen ist. Die drei Worte werden in einem Tonfall gesprochen, als wäre mit ihrer Verkündung die natürliche Ordnung der Dinge hergestellt. Der Italiener singt, der Franzose trinkt, der Deutsche arbeitet, und der Israeli hat ein Problem, dem er sich stellen muß. Und wenn es mal ausnahmsweise kein Problem gibt, weil die Inflation unter 10 Prozent gesunken ist, die Lehrer nicht streiken und kein arabischer Fundamentalist, Allah zuliebe, jüdisches Blut vergießen mußte, dann dauert es höchstens drei bis sieben Tage, bis ein Problem geschaffen wird.
Entweder drohen die religiösen Parteien, die Koalition zu verlassen, wenn sie für ihre Einrichtungen nicht mehr staatliche Zuschüsse bekommen. Oder Ultra- Orthodoxe liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, weil irgendwo im Land eine Straße über alten Gräbern gebaut werden soll, oder der Innenminister droht, er werde auspacken, wenn das Ermittlungsverfahren wegen Korruption gegen ihn nicht eingestellt wird. Die Erfahrung eines Problems ist um so nachhaltiger, je subjektiver es erlebt wird. Der Absturz eines El-Al-Jumbos über Amsterdam ist eine Bagatelle, gemessen an einem Autobus, der einem vor der Nase wegfährt.
In einem solchen Falle sagt der authentische Israeli nicht jesch li baja, ich habe ein Problem, sondern kibalit shok, ich habe einen Schock bekommen. Und hat er, weil ihm der Bus vor der Nase davongefahren ist, den Beginn der Nachrichten daheim verpaßt, dann geht er noch einen Schritt weiter und sagt jesch li trauma, ich habe ein Trauma erlitten. Der Israeli neigt also zu subtilen Übertreibungen, was er selbst als einen an Antisemitismus grenzenden Vorwurf empört zurückweisen würde.
Während der typische Israeli also immer nervös, gelegentlich hysterisch und zwischendurch panisch ist, zeichnen sich die Israelis als Kollektiv durch eine Gelassenheit aus, die man nirgendwo sonst findet. In keinem anderen Land wäre die Bevölkerung wochenlang mit griffbereiten Gasmasken herumgelaufen, ohne irgendwann gemeinsam durchzudrehen. Es scheint, als würde eine unmittelbare Gefahr auf die Israelis eine beruhigende, disziplinierende Wirkung haben, während Alltagssituationen, die Besonnenheit und Rücksichtnahme erfordern, die Menschen völlig überfordern.
Monat um Monat kommen mehr Menschen bei Verkehrsunfällen um, als von arabischen Terroristen ermordet werden. Der wahre Krieg findet in Israel auf der Straße statt. Der israelische Autofahrer glaubt, daß er zu den besten in der Welt gehört. Diese Fehleinschätzung wäre halb so schlimm, wenn er nicht alles unternehmen würde, sie unter Beweis zu stellen, was wiederum oft zu fatalen Folgen führt. Daß Praxis und Selbstverständnis weit auseinanderklaffen, hat einen natürlichen Grund. Es kann einer kein organisch entwickeltes Verhältnis zu 50 oder 100 Pferdestärken unter seinem Hintern haben, wenn die Eltern bzw. Großeltern noch mit einem Leiterwagen in der Ukraine unterwegs waren oder auf Eseln von Tunis nach Casablanca geritten sind.
So kommt es, daß jeder Israeli, der sich an einem Lenkrad festhalten kann, irgendeine Störung im Verkehr, die ihn zwingt, von seinem Kurs abzuweichen, nicht als etwas völlig Normales hinnimmt, sondern als eine persönliche Kränkung, eine Verletzung seiner Würde erlebt. Eine Situation, die immer wieder vorkommt, sieht so aus: Ein Auto fährt langsam am Bürgersteig entlang, wahrscheinlich sucht der Fahrer eine Hausnummer, die in Israel deswegen so diskret angebracht sind, damit sich die Araber im Falle einer Invasion nicht zurechtfinden. Hinter ihm fährt ein anderer Wegebenutzer. Statt den ersten in einem günstigen Moment zu überholen, regt er sich über die Störung furchtbar auf, hupt und blinkt und gestikuliert. Schließlich schert er doch nach links aus, aber nur, um dem Vordermann den Weg abzuschneiden. Dann dreht er auf der Beifahrerseite das Fenster runter und hält dem anderen eine Standpauke, wobei es ihn überhaupt nicht rührt, daß nunmehr hinter ihm die ganze Straße blockiert ist und der Verkehr völlig ruht. Erst wenn er die landesübliche Kollektion von Flüchen losgeworden ist, ist auch seine Ehre wiederhergestellt, und er kann weiterfahren, ohne sich vor sich selber schämen zu müssen.
In keinem zivilisierten Land wird schlechtes Benehmen dermaßen verbissen als Grundrecht verteidigt wie in Israel. Da versucht ein Mann, von einem öffentlichen Telefon ein Gespräch zu führen. Das Telefon ist kaputt, was, ähnlich wie das Autofahren, auf einen gewissen Mangel an Übung im Umgang mit technischen Geräten zurückzuführen ist. Der Mann wird böse, er haut mit dem Hörer auf das Gehäuse, als wollte er aus dem Metallkasten den Dybbuk raustreiben. „Was machst du da?“ fragt ein Passant, der grade vorbeikommt, „willst du das ganze Ding zerschlagen?“ Nun hat der erste Mann einen gefunden, den er verantwortlich machen, an dem er seine Wut auslassen kann. „Was geht dich das an, ist es dein Telefon, hast du es gekauft?“ brüllt er, „hast du nichts Besseres zu tun, als mir Ratschläge zu geben? Geh doch nach Hause und fick dich selbst, du Hurensohn!“ Damit können alle zufrieden sein. Der erste Mann hat einen Schock, weil er nicht telefonieren konnte, der zweite hat ein Trauma, weil er sich nicht durchsetzen konnte. Und beide haben ein Problem, jesch lanu baja, gelobt sei der Herr.
Andererseits: Wo kann man eine Szene wie diese erleben: Freitagvormittag auf der Ben-Jehuda- Straße, der Fußgängermeile von Jersualem. Bevor der Sabbat die Stadt lahmlegt, wird noch mal das große Rad gedreht. Die Cafés sind voll, die Sonne scheint, Musiker machen Straßenmusik, die heilige Stadt zeigt sich von ihrer besten, der banalen Seite. Da schiebt sich ein weißes Polizeiauto mit Blaulicht durch die Menge. Jeder weiß, was es bedeutet, kaum jemand schaut sich um. An der Kreuzung Ben Jehuda und Ben Hillel bleibt der Wagen stehen, ein junger Mann steigt aus, legt eine Bleiweste, Beinplatten und einen Helm an. Zwanzig Meter weiter, in einem Hauseingang, liegt ein Rucksack. Wahrscheinlich ist es wirklich nur ein Rucksack, den ein Tourist vergessen hat, es könnte aber auch eine Bombe sein. Die Kreuzung wird von zwei Polizisten geräumt, die Passanten bleiben hinter imaginären Linien stehen. Eine Jazz- Band hört auf zu spielen, die Musiker gehen zehn Schritte zurück. Der Bombenentschärfer rollt ein langes Kabel aus, macht es vorsichtig an dem Rucksack fest, geht zurück, zieht an dem Kabel, nichts passiert, er geht wieder vor, legt das Kabel über einen Mauervorsprung, geht zurück, zieht an dem Kabel wie an einem Flaschenzug. Der Rucksack hüpft auf und ab, nichts passiert. Es ist wirklich ein Rucksack und keine Bombe, das Objekt muß nicht durch eine kontrollierte Sprengung zerstört werden. Der Sprengmeister rollt das Kabel wieder ein, legt den Helm ab. Im selben Moment erwacht die Kreuzung wieder zum Leben, die Menschen gehen weiter, die Jazz- Band spielt wieder, und das weiße Polizeiauto bahnt sich seinen Weg durch die Menge zurück. Keine Panik, keine Aufregung, nur eine kleine Störung vor Sabbat-Beginn.
Die Israelis selbst beschreiben ihre kollektive Befindlichkeit als eine Form der „hysterischen Gelassenheit“, wobei der Zustand mal mehr zur Hysterie und mal mehr zur Gelassenheit tendiert. Sie haben sich an allerlei Katastrophen gewöhnt, an Kriege und Terrorüberfälle, an Korruption und Inkompetenz, an den Wassermangel im Sommer und die Überschwemmungen im Winter. Deswegen scheint die Gesellschaft auf den ersten Blick unbeweglich. Tatsächlich ist sie imstande, sich neuen Situationen schnell anzupassen. Der Frieden mit Ägypten gehörte einmal ebenso in den Bereich der politischen Fiktion wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu China. Sobald das eine wie das andere erreicht war, schrumpfte die Sensation auf das Maß einer technischen Nebensächlichkeit zusammen: Wie ist die Vorwahl von Peking, wann geht der Bus nach Kairo?
Hysterie hin, Gelassenheit her, eigentlich ist Israel ein ganz normales Land, das seine eigene, leicht asynchrone Normalität lebt. Während in religiösen Kreisen darüber diskutiert wird, ob die Halacha (das jüdische Religionsgesetz) Rauchen erlaubt oder als eine Form der Selbstverstümmelung verbietet, räumt die Polizei in Tel Aviv 20 Bordelle aus, in denen Russinnen ihrer Arbeit nachgingen. Während israelische und palästinensische Experten sich zu einer Konferenz über Wasserfragen treffen, protestieren rechte Siedler vor dem Sitz des Ministerpräsidenten gegen die ihrer Meinung nach zu lasche Behandlung der Intifada durch Polizei und Armee. Und während die Friedensverhandlungen in Washington zwar nicht zügig, aber immerhin vorangehen, wird mitten in Israel ein Offizier der Grenztruppe von einem Hamas-Kommando vor seinem Haus gekidnappt und ermordet.
Und dann gerät die „hysterische Gelassenheit“ der Israelis aus dem labilen Gleichgewicht. Jüdische Fanatiker brüllen „Tod den Arabern“ und greifen arabische Israelis an, die mit dem Verbrechen nichts zu tun haben. Und wenn dann Hamas-Sprecher erklären, es habe sich um keine Entführung, sondern eine „Gefangennahme“ gehandelt, denn Hamas befände sich mit Israel im Kriegszustand, dann macht sich im Land nicht nur Wut, sondern auch die Überzeugung breit, man wäre allein auf der Welt und müsse selbst für Sicherheit und Gerechtigkeit sorgen.
Manchem Israeli schwant es, daß die über lange Jahre liebevoll gepflegte Losung „Es ist keiner da, mit dem man reden kann“ das Land in eine Situation geführt hat, in der Verhandlungen mit der PLO die einzige Möglichkeit sein könnten, Hamas am totalen Durchmarsch zu hindern. Schon heute haben die Fundamentalisten im Gaza-Streifen das Sagen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich auch in der Westbank durchsetzen werden. Die Fatah-Leute in der PLO, die von den Israelis noch immer mißtrauisch beäugt werden, könnten sich bald als Verbündete erweisen, deren Interessen mit denen der Israelis parallel laufen. Gemessen an den Hamas-Scheichs ist Arafat ein liberaler Philosemit.
So ist es eben im Nahen Osten: Die Fata Morgana von gestern ist die Hoffnung von morgen. Und dazwischen liegt das Niemandsland der Normalität. Ejn baja.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen