Monatelang machte er Brasilien verrückt. Bereits vom Präsidentenamt suspendiert, weigerte sich Fernando Collor, seinen Sessel zu räumen. Daß Hunderttausende gegen ihn demonstrierten, ließ ihn kalt. Doch gestern kam er seinem Rausschmiß zuvor. Aus Brasilien Astrid Prange

Der langsame Fall des korrupten Präsidenten

Er tat wie immer genau das Gegenteil von dem, was er behauptet: Entgegen aller Ankündigungen trat Fernando Collor de Mello gestern vormittag von seinem Amt als Präsident Brasiliens zurück. Der 42jährige ist damit das erste Staatsoberhaupt Lateinamerikas, das wegen nachgewiesener Korruption vorzeitig seinen Stuhl räumen muß.

Den Rücktritt nehmen die Brasilianer erleichtert zur Kenntnis. Unklar bleibt jedoch, ob Collor für seine Taten auch politisch zur Verantwortung gezogen wird: Dann nämlich dürfte er in den nächsten acht Jahren für kein politisches Amt mehr kandidieren.

Collor, der im November 1989 nach 21 Jahren Militärdiktatur erstmals wieder direkt vom Volk zum Präsidenten Brasiliens gewählt wurde, geriet unmittelbar nach der UNO-Umweltkonferenz im Juni dieses Jahres in Rio de Janeiro in den Verdacht, bestechlich zu sein. Eine parlamentarische Untersuchungskommission (CPI) wies nach, daß er zusammen mit seinem Unternehmerfreund Paulo César Farias, genannt PC, einen Raubüberfall auf die brasilianischen Staatsfinanzen verübt hatte. Allein PC Farias soll sich um rund eine Milliarde US-Dollar auf Kosten des brasilianischen Volkes bereichert haben. Die Enthüllungen der CPI führten am 29. September zu einer historischen Abstimmung im brasilianischen Parlament. Nach dieser für Brasilien einmaligen Parlamentssitzung wurde Collors Prozeß an den Senat weitergegeben, der gestern das endgültige Urteil über den Angeklagten Collor sprechen sollte.

Doch Collor mißgönnte den 81 anwesenden Senatoren den Triumph, als erster zwangsweise abgesetzter Präsident Lateinamerikas in die Geschichte Brasiliens einzugehen. Während der belastenden Zeugenaussage des ehemaligen Direktors der brasilianischen Zentralbank, Francisco Gros, teilte er seinem Anwalt José Moura Rocha via Funktelefon sein Vorhaben mit. Dieser wiederum ließ es sich nicht nehmen, mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen den Impeachment-Prozeß zu unterbrechen, mit dem dezenten Hinweis, daß sein Mandant nicht gewillt sei, seine politische Hinrichtung widerstandslos zu akzeptieren.

Collor gelang es bis zum letzten Augenblick, die brasilianische Öffentlichkeit sowie die Abgeordneten in der Hauptstadt Brasilia an der Nase herumzuführen. Fünf Minuten vor der Eröffnung der entscheidenden Sitzung im Senat ließ er noch verkünden, er werde unter keinen Umständen zurücktreten. „Er geht bis zum bitteren Ende, das ist eine Frage des Charakters“, erklärte sein enger Vertrauter Paulo Otavio, Abgeordneter des brasilianischen Parlaments.

Starrhalsigkeit und Unberechenbarkeit des Ex-Präsidenten führten dazu, daß sich außer den Senatoren kaum Abgeordnete im brasilianischen Kongreß befanden. Die Parlamentarier, über Weihnachten und Neujahr verreist, mußten in aller Eile nach Brasilia getrommelt werden, um den Amtsantritt von Nachfolger Itamar Franco offiziell abzusegnen. Denn nach brasilianischem Recht darf das Land nicht einen Augenblick lang ohne Staatsoberhaupt bleiben.

Collor beschwerte sich bis zum allerletzten Augenblick darüber, daß ihm sein Recht auf Verteidigung nicht ausreichend eingeräumt worden sei. Bei dem Impeachment handele es sich um eine politische Hinrichtung und nicht um einen fairen Prozeß. Er kündigte sogar an, er wolle sich an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag wenden, um sein Recht auf Verteidigung geltend zu machen. Doch auch dies ist nur eine der vielen Luftblasen des ehemaligen Staatsoberhaupts der achtgrößten Industrienation. Der selbsternannte „Jäger der Korrupten“ hat sich eigenhändig ad absurdum geführt. Bis heute hielt er es nicht für nötig, den Anschuldigungen der CPI inhaltlich zu widersprechen. „Bis jetzt ist nicht ein einziges Komma unseres Berichtes widerlegt worden“, triumphiert Abgeordneter Amir Lando, Schriftführer der Untersuchungskommission. Lando zeigt sich über den Rücktritt Collors erleichtert, doch Collor darf seiner Ansicht nicht ungeschoren davonkommen: „Der Impeachment-Prozeß muß weitergehen, Collor muß das passive Wahlrecht entzogen werden.“

Carles Lindbergh, Vorsitzender der brasilianischen Schüler- und Studentenvereinigung, dringt ebenfalls auf Rache: „Er wird nicht ungestraft davonkommen“, schwört er. Lindbergh organisierte die ausgelassenen Kundgebungen im September, die Millionen von Jugendlichen auf die Straße brachte und die Öffentlichkeit gegen Collor mobilisierte.

Ob der Impeachment-Prozeß weitergeführt wird, darüber wird voraussichtlich heute der Senat abstimmen. Doch auch wenn Ex-Präsident Collor dem politischen Verdikt entkommt, vor dem Strafrichter muß er sich in jedem Fall verantworten. Nach dem Rücktritt braucht der Oberste Gerichtshof nicht mehr die Zustimmung des Kongresses (Parlament und Senat) zur Eröffnung des strafrechtlichen Verfahrens.

Die Zeitschrift Veja ruft die Brasilianer auf, sich Silvester gegenseitig auf die Schulter zu klopfen: „1992 wird als das glorreiche Jahr in die Geschichte eingehen, in dem wir uns von unserem korrupten Präsidenten befreit haben.“