Keine glänzende Zukunft für die Slowakai?

■ Nach 74 gemeinsamen Jahren entzweien sich Tschechen und Slowaken. Seit jeher ist Bratislava die trostlosere der beiden Hauptstädte

Keine glänzende Zukunft für die Slowakai?

Die Stadt gleicht einem Labyrinth, unorganisch und viel zu schnell nach dem Zweiten Weltkrieg gewachsen. Historische Viertel, vernachlässigt und verfallen, wurden schon vor Jahren abgerissen. Bratislava ist zwar eine Stadt an der Donau, doch der breite Fluß ist nicht Zentrum, sondern Grenze des Landes.

Auf dem „Platz des Slowakischen Nationalaufstandes“ kaufen TschechInnen slowakischen Schafskäse. Gelb wie Butter ist er, und sein Geschmack läßt an verrußte Kamine denken, denn der slowakische Schafskäse wird geräuchert. Vor allem aber: In Prag ist er nicht zu haben. Ministerialbeamte, Parteifunktionäre, Jungunternehmer, die von der Moldau an die Donau reisten, führten die Spezialität „privat“ in die böhmischen Länder ein.

Nach der morgigen Trennung des föderativen Staates der Tschechen und Slowaken dürfte jedoch nicht nur der staatliche Käsehandel unter Umsatzeinbußen leiden. Ein Staat, gerade vierundsiebzig Jahre alt, wird aufgelöst. Mit ihm verschwindet Altbekanntes, Vertrautes. Sogar Landstraßen, die slowakische mit tschechischen Dörfern verbanden, sollen nun gesperrt werden. Und es verschwinden die Kuriosa einer so unterschiedlichen Entwicklung zweier Nationen. So ist auch der Besitzer des Antiquariats in der Dunajská, der Donaustraße, sicher, daß demnächst nur noch wenige TschechInnen den Weg zu ihm nach Bratislava finden werden. Das Slowakische ist eine relativ junge Sprache. Die heutige Schriftsprache enstand erst in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. So sind die alten und damit teuren Werke in tschechisch gedruckt. Slowaken, die sie bei ihren Großmüttern in den Bücherschränken entdeckten, wußten, daß die Tschechen „wild“ darauf waren. Selbst die gehobenen Prager Parteifürsten warteten gern mit gut sortierten Bücherregalen auf, und so war der alte Laden in der Dunajská für sie eine Fundgrube. Für Reisen zwischen den beiden Hauptstädten der Tschechoslowakei war bereits in den siebziger Jahren die erste und bis heute einzig durchgehende Autobahn des Landes gebaut worden.

Für Pendler zwischen Prag und Bratislava wurde die dreihundert Kilometer lange Straße zum Bestandteil des föderalen Alltags. Wie oft haben sie im Rasthaus „Neun Kreuze“, dort, wo die Linienbusse ihre vorgeschriebene Pause einlegen, zu Mittag oder zu Abend gegessen, wie oft hat undurchdringbarer Nebel den Blick auf die Hänge der böhmisch-mährischen Hochebene, der Vysočina, verhindert? Eine gefahrvolle Strecke: zwischen Kilometer 90 und 110 ist nicht nur Alexander Dubček tödlich verunglückt.

Auf der Brücke über die Morava, die March, wies bis vor wenigen Tagen nur das Schild „Slowakische Republik“ auf die zukünftige Staatsgrenze hin. Und dieses stand schon lange. Die angebrachten Signalleuchten warnten vor schneeglatter Fahrbahn, an Bauarbeiten für eine Grenzstation schien bis letzten Dienstag keiner zu denken. Da begannen die Tschechen in einer Eilaktion mit dem Bau der ersten Zollbehörde. Achtzehn sollen es entlang der von Nord nach Süd verlaufenden zweihundert Kilometer langen Grenze einmal sein.

Dem Leiter der nahen Raststätte kann das nur recht sein. Nicht, daß er slowakischer Nationalist wäre. Doch seine Tankstelle hier ist die erste nach – oder auch vor – der Grenze. Angesichts der allseits prognostizierten unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung in den beiden jungen Republiken dürfte sich aus dem trostlosen realsozialistischen „Restaurant“ schon bald eine „Snack-bar“ und ein schwungvoller Handelsplatz entwickeln. Bereits heute kommen Tschechen zum Tanken in die Slowakei, hier ist das Benzin zehn Pfennige billiger.

Doch auch hier gibt es „Verluste“. Was in drei Jahren marktwirtschaftlicher Gründerzeit nicht gelang, ermöglicht nun der Aufschwung, den die neue Grenzziehung bringt. Verschwinden werden so die hölzernen Automobile, die „verdiente sozialistische Künstler“ irgenwann in den frühen Siebzigern aus den Tannen der Hohen Tatra als Wandschmuck fertigten.

Abgehängt werden wird ein Plakat, auf dem ein schmachtender Jüngling mit Fliege, Anzug und Pepsi-Cola-Flasche daran erinnert, daß es schon in den sechziger Jahren slowakisch-tschechische Rivalitäten gab. Während man westlich der March damals Coca-Cola importierte, entschied die Partei in Bratislava sich für die Konkurrenz. Mit der Parole: „Pepsi-Cola – unsere Freude“.

Nicht enden wird mit der Staatsgründung der Neid, mit dem viele Slowaken das „bessere“ Leben der Tschechen schon seit Jahrzehnten verfolgen.

Im Gegenteil. So wie seit der Öffnung der osteuropäischen Grenzen vor drei Jahren Deutsche und Österreicher, die zum billigen Sonntagsausflug in den Böhmerwald kommen, von den Tschechen mit Mißmut bedacht werden, so könnten sich schon bald die Einwohner der grenznahen Städte Žilina und Trenčin über die Gäste aus dem reicheren tschechischen Nachbarland ärgern.

Mit einer höchst unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung rechnet auch Braňo Koštál, der unweit des tschechischen Hodonín im slowakischen Holíč wohnt. Sein Geld hat er „sicherheitshalber“ bei einer tschechischen Bank angelegt. Gewinnt die tschechische gegenüber der slowakischen Krone an Wert, gewinnt auch er. Angst hat Koštál lediglich um seine Aktien. Denn auch die hat er sich – wie unzählige andere Slowaken – im Rahmen der Privatisierung ausnahmslos von tschechischen Unternehmen gekauft. „Doch jetzt wollen die Prager von unserer Regierung Ausgleichszahlungen, die unser Premier Mečiar ablehnt. Da werden die Tschechen die Aktien wohl gar nicht an uns rausgeben.“ Und das ärgert Braňo. „Schließlich können wir Kleinen nichts dafür, wenn die Großen sich uneinig sind. Wir Slowaken haben schließlich zum Erfolg der tschechischen Unternehmen beigetragen, also wollen wir jetzt auch davon profitieren.“

Mit Vergangenheit und Zukunft der wirtschaftlichen Zusammenarbeit von Tschechen und Slowaken beschäftigt man sich auch im slowakischen Wirtschaftsministerium. Viele tschechoslowakische Unternehmen – wie etwa der Traktorenhersteller „Zetor“ oder die Firma für medizinische Geräte „Chirana“ – haben ihre Zentrale in der Tschechischen Republik, ihre Fakrikation aber in der Slowakei. Aber wenn die Prager Behörden ihnen nicht die Lizenzen für die Produkte geben, können die Betriebe zumachen.

Keine Verantwortung trägt Prag hingegen für die Schließung der Buchhandlung für moderne tschechische Literatur in Bratislava. Der Anblick des unter den abmontierten Neonschildern zurückgebliebenen Schriftzuges „Český knihy“ (tschechische Bücher) löst ein Déjà-vu-Erlebnis aus: einst übermalten die Tschechen deutsche Geschäftsnamen, nun verschwinden tschechische Bezeichnungen.

Die Idee einer „tschechoslowakischen Schweiz“, in der nach den Vorstellungen von Tomáš G. Masaryk – dem ersten Präsidenten des Staates – mehrere Nationen friedlich zusammenleben sollten, sie ist schon lange gescheitert. Welchen Verlust die Slowaken durch den Verlust der tschechischen Sprache erleiden, wissen nicht nur Wissenschaftler. Viele SlowakInnen lesen deutsche oder englische Literatur lieber in der tschechischen als in der slowakischen Übersetzung, zu viele Begriffe fehlen dem „verspäteten“ Slowakisch.

Die Förderung der tschechischen Kultur zum Ziel gesetzt hat sich das „Tschechische Kulturzentrum“. In Prag kennt jedes Kind den Weg zum „Slowakischen Haus“. In Bratislava erntet der Fremde nur Schulterzucken. Selbst der Taxifahrer, der nur hundert Meter vom Kulturzentrum entfernt seinen Standplatz hat, muß auf dem Stadtplan nachsehen. Ein Zeitungsverkäufer, auch er hat das barocke Palais zum Greifen nahe, murmelt etwas von „immer wieder verlegt“. Richtungsweisende Auskunft erteilt so nur ein Buchhändler, bei dem man zugleich die letzten Nummern der in der Slowakei als „tschechoslowakisch“ oder auch „jüdisch“ verunglimpften Kultúrny život (Kulturelles Leben) kaufen kann.

Und auch im „Tschechischen Haus“ selbst weist nur ein schmales Plakat auf seine Existenz hin. Selbst der Begriff „Haus“ scheint übertrieben. Im Unterschied zu Prag, wo den Liebhabern der slowakischen Kunst und Literatur mehrere Stockwerke zur Verfügung stehen – und wo im romantischen Innenhof slowakischer Schafskäse serviert wird –, sind es hier nur wenige Zimmer. Dennoch, Direktor Peter Krupár ist stolz darauf, standen ihm doch bis vor wenigen Monaten noch ungeeignetere Räumlichkeiten in einem Kloster zur Verfügung. Heute ist der Direktor, Slowake und Liebhaber tschechischer Musik, in der Lage, gemeinsam mit seinen Mitarbeitern nicht nur in Bratislava, sondern auch im nordslowakischen Žilina zehn Ausstellungen im Jahr durchzuführen. Ein kleiner Theatersaal bietet siebzig Zuschauern Platz, die monatlich erscheinenden Programme werden an über zweitausend Interessenten verschickt.

Die Frage, ob sich sein Haus zu einem Zentrum tschechoslowakischer Sentimentalitäten entwickelt habe, verneint er. Die Trennung würde von den meisten Tschechen seiner Ansicht nach akzeptiert, nach Böhmen oder Mähren würde kaum einer auswandern. Schließlich sei man hier verheiratet, habe hier seinen Arbeitsplatz. Mit einer Schließung des Hauses sei nicht zu rechnen, das slowakische Kulturministerium, das die aus privater Initiative in den achtziger Jahren entstandene Einrichtung finanziert, habe für 1993 auch keine Kürzung der Mittel vorgesehen.

Tatsächlich ist die Stimmung der TschechInnen in der Slowakei alles andere als einheitlich. Maria Schulzová, kam vor zwanzig Jahren nach Bratislava, weil ihrem Mann, eine bessere Stelle als in Prag angeboten wurde. Sie weiß nicht, ob sie bleiben soll. „Damals, nach dem Prager Frühling, gab es hier mehr Freiräume. Doch jetzt habe ich oft das Gefühl, daß die Nachbarn hinter meinem Rücken über mich reden, ich beim Einkaufen unhöflich behandelt werde. Einmal mußte ich mir sogar anhören, daß wir Tschechen nach Hause gehen sollen. Doch der Mann war betrunken.“ Noch hofft sie, daß es „nicht ganz schlimm wird“. Und dafür will sie auch etwas tun.

Als die „Helsinki Citizens Assembly“, der Zusammenschluß unzähliger Bürgerinitiativen aus Ost- und Westeuropa, in diesem Frühjahr in Bratislava ihre zweite Vollversammlung abhielt, da besuchte sie fast alle Podiumsdiskussionen, die sich mit dem neuen Nationalismus in Europa beschäftigten: „Schade war nur, daß die Mehrheit der Slowaken sich für diese Veranstaltung nicht interessierte.“

Jana Ježková hat dagegen in erster Linie Angst um ihren dreizehnjährigen Sohn Pavel. Weil er tschechisch spricht, hat er es in der Schule jetzt nicht immer leicht: „Die anderen Schüler tun so, als wären sie etwas Besseres und schließen ihn aus.“ Die Slowakei verlassen möchte sie jedoch nicht. Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann, der selbst Slowake ist. „Schauen Sie sich doch um, was hat sich hier in den vergangenen drei Jahren denn geändert. Fast alles ist noch genauso grau und schmutzig. Da läßt sich doch kein ausländisches Unternehmen nieder.“ Ganz unrecht hat er nicht. Die paar neuen – oft mit österreichischem Kapital finanzierten – Konditoreien, Parfümerien und „Disk-Shops“ im Zentrum können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Bratislava seine Vergangenheit als „ewig Zweite“ nur schwer abstreifen kann. Wenige Kilometer südöstlich liegt Ungarn, kaum fünfzig Kilometer sind es bis Wien.

Nahe der Donau, am Rande von Bratislava, steht ein Löwe auf einem Sockel. Symbol der „tschechoslowakischen Staatlichkeit“. In den vergangenen Jahren fanden hier hin und wieder Demonstrationen für den Erhalt der ČSFR statt. Was wird aus dem Denkmal?