„Ich will zurück nach Deutschland“

Die Geschichte der Roma-Familie Savu, deren Asylbegehren in Deutschland abgelehnt worden ist und die per Flugzeug von Berlin aus in ihre rumänische Heimat abgeschoben wird/Ein Leben ohne Perspektiven in feindlicher Umgebung  ■ Von Keno Verseck

Für einen Augenblick vergißt Arpad Savu, daß er nicht freiwillig zurückgekehrt ist. „Sind wir jetzt zu Hause?“ fragt der sechsjährige Cosmi seinen Vater aufgeregt. Arpad Savu lächelt froh. „Ja, mein Junge, jetzt sind wir endlich zu Hause.“ Es klingt so, als hätte eine lange, beschwerliche Reise ein glückliches Ende genommen. Aber dann erlischt Savus Lächeln wieder.

Nebelschwaden ziehen über die Bahnstation von Lugoj, ein paar Laternen leuchten matt im Dunkel. Es ist fünf Uhr morgens und schneidend kalt. Niemand wartet auf Savu, seine Frau Violeta und die drei Kinder. Sie konnten ihre Familienangehörigen weder anrufen noch ihnen ein Telegramm schicken. Nun stehen sie vor dem Bahnhof des Banater Städtchens, das eine Autostunde östlich von Temeswar liegt, und schauen sich um wie Fremde. Sechzehn Monate waren sie fort. Mit ein paar durchlöcherten Plastetüten voller ungewaschener Wäsche und einem alten Farbfernseher kehrt die abgeschobene Roma-Familie heim.

Die Großmutter klagt laut, als ihre Kinder und Enkel sie aus dem Bett klopfen, aber es ist ihr anzusehen, wie sehr sie sich freut. Minutenlang herzt sie ihren jüngsten Enkel, den fünfjährigen Alin, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Im Hof des geräumigen Hauses stehen drei defekte Autos. Nur ein Zimmer haben sich die Savus wohnlich eingerichtet. An den Wänden hängen bunte Teppiche, auf denen röhrende Hirsche und Jesus mit seinen Jüngern zu sehen sind.

„Wenn es irgendwo Arbeit gibt, dann nicht für mich“

Als erstes wird der Videorecorder eingeschaltet und ein japanischer Karate-Film eingelegt. Später läuft ein Horrorfilm – „Freddy IV“. Aber nur hin und wieder schaut jemand auf den Bildschirm. Der achtjährige Claudio kramt ein Computerspiel aus dem Schrank. Die beiden anderen Kleinen haben eine Katze entdeckt und schleifen sie gemeinschaftlich durchs Zimmer. Es gibt Kaffee, Brot, hausgemachte Wurst und tuica, einen starken Pflaumenschnaps. Violeta Savu zeigt ihrer Mutter den Werbezettel einer amerikanischen Sekte, auf dem die Apokalypse und die Allmacht Gottes beschworen werden. Auf der Rückseite ist nicht nur ein Beitrittsgesuch abgedruckt, sondern auch noch der Antrag für eine Einreisegenehmigung in die USA. Die Savus können kein Englisch. Aber das mit der Einreise in die USA hat Violeta Savu begriffen und will den ausgefüllten Zettel nun abschicken.

Arpad Savu sitzt schweigend am Tisch, mit bedrückter Miene zu Boden blickend. Erst jetzt scheint ihm richtig bewußt zu werden, daß Deutschland ihn und seine Familie abgeschoben hat. Auf die Frage, was nun mit ihm werden soll, zuckt er mit den Schultern. Nach einer Weile sagt er: „Rumänien ist ein gutes Land, mein Land. Aber hier wird alles immer schlechter. Es gibt keine Arbeit. Wovon soll ich meine Familie ernähren? Überhaupt, ich bin Zigeuner. Wenn es irgendwo Arbeit gibt, dann nicht für mich. Ich will lieber zurück nach Deutschland.“

Einen Beruf haben weder Savu noch seine Frau gelernt. Bevor sie mit ihren Kindern nach Deutschland gingen, hielt Savu sich mit dem Handel von ausländischen Gebrauchtwagen über Wasser. Schon bald nach dem Umsturz vom Dezember 1989 war der Markt überschwemmt, das Geschäft ging immer schlechter. Schließlich wurde ein Gesetz gemacht, daß den Import von Autos, die älter als drei Jahre sind, verbietet. Selbst wenn Savu das Geld gehabt hätte, solche Wagen im Ausland zu kaufen – er hätte sie nicht absetzen können. In Rumänien gibt es keine Mittelklasse und nur eine kleine Schicht von reichen Leuten. Und die ist so reich, daß sie ihre Limousinen sicher nicht bei Savu kaufen würde.

Im Sommer 1991 verließ die Familie Rumänien, schlug sich über die Tschechoslowakei illegal nach Deutschland durch und stellte dort einen Asylantrag. Savu war vierundzwanzig Jahre alt, seine Frau zweiundzwanzig. Politisch verfolgt hat der rumänische Staat sie nicht persönlich, aber sie sind Zigeuner, und das bedeutet in diesem Land nichts Gutes. Unter Ceaușescu, erzählt Arpad Savu, durften Roma nicht in den kommunistischen Jugendverband UTC eintreten. Begründung: Zigeuner. Ohne den roten UTC-Ausweis konnten sie die meisten Zukunftschancen in den Wind schreiben – eine der harmloseren Methoden von Ceaușescus Anti-Roma-Politik.

Heute bliebe Savu zum Beispiel, sich als Straßenkehrer zu bewerben, wie die Cousine seiner Frau, für einen Lohn, von dem er kaum sich selbst ernähren könnte. In Rumänien heißt es, die Zigeuner seien arbeitsscheu. Aber die meisten Rumänen würden nie die Straßen fegen. Die Straßen werden fast ausnahmslos von Roma gefegt. In den Augen vieler beweist das nur, daß sie zu nichts Besserem taugen. Der Haß gegen Roma ist unumstößlich. Er vereint die Rumänen und mit ihnen andere Minderheiten wie die Ungarn, die Deutschen und die Juden, die selbst unter Rassismus und Diskriminierung zu leiden hatten oder noch haben. Auf eine Wand in der Bukarester Metrostation Piata Unirii haben Unbekannte eine Parole gesprüht, die niemand übermalt und niemanden zu stören scheint: „La Auschwitz cu tiganii!“ – zu deutsch: „Nach Auschwitz mit den Zigeunern!“

Savu, der mit seiner Familie nach Hildesheim kam, versteht nicht, warum die deutschen Behörden seinen Asylantrag abgelehnt haben. „Wir waren eine ordentliche Familie, wir hatten nie Probleme mit der Polizei. Meine Kinder haben nicht gebettelt. Claudio ist zur Schule gegangen. Ich hätte gearbeitet, ich hätte mir selbst eine Stelle gesucht, aber sie haben mich nicht arbeiten lassen.“ Anfang Dezember holte die Ausländerpolizei sie ab und brachte sie ins Abschiebegefängnis. Am 16. Dezember, auf den Tag genau drei Jahre nachdem der Aufstand gegen Ceaușescu begann, werden sie mit dem Flug RO 332 der rumänischen Linie Tarom von Berlin-Schönefeld aus in die Heimat zurückverfrachtet.

Von den „aufenthaltsbeendenden Maßnahmen“, wie Ralf Pistor, Chef des Bundesgrenzschutzes in Schönefeld, sich ausdrückt, sind an diesem Tag insgesamt 24 rumänische StaatsbürgerInnen betroffen. Laut BGS-Schönefeld befinden sich unter ihnen 22 Personen, deren Asylantrag die deutschen Behörden abgelehnt haben; die beiden anderen, heißt es, seien vom BGS zwei Tage zuvor an der deutsch-tschechoslowakischen Grenze bei der illegalen Einreise aufgegriffen worden. Später, während des Fluges, erzählen vier Rumänen, daß sie vor ein paar Tagen an der Grenze verhaftet wurden. Einer von ihnen, der etwas Deutsch spricht, Aron Radu aus Piatra Neamt in den Ostkarpaten, sagt, er habe vergeblich versucht, einen Asylantrag zu stellen.

„Ich warne Sie! Das sind Kriminelle, die alles stehlen“

Die normalen Passagiere sind bereits in die Maschine eingestiegen; der Flugkapitän gibt achselzuckend zu Protokoll, er wisse nichts von Abzuschiebenden, obwohl ihm sämtliche Pässe übergeben worden sind. „Zigeuner haben in Rumänien genau die gleichen Rechte wie alle anderen“, meint er, „aber sie stehlen und machen ziemlich viele Probleme.“ Die letzten Stunden vor dem Flug verbringen die Abzuschiebenden in speziellen Baracken, die neben dem Flughafengelände Schönefeld liegen und zu denen kein Berichterstatter Zutritt bekommt. „Hier können sie noch duschen, wenn sie wollen“, sagt Ralf Pistor. Ein alter DDR-Bus, Marke „Robur“, fährt sie zum Flugzeug. Einsteigen müssen sie von hinten; für sie sind die hinteren Sitzreihen reserviert. Ein BGS-Beamter trägt einen Fernseher in die Maschine, und Arpad Savu meldet sich. „Meiner!“

Wenn er sich irgendwelche Illusionen über seine Heimat gemacht hätte – spätestens jetzt würde er sie verlieren. Die Passagiere, fast alle Rumänen, tuscheln über die „tigani“. Ein Geschäftsreisender hebt beschwörend den Zeigefinger und flüstert: „Ich warne Sie! Das sind Kriminelle, die alles stehlen, was ihnen zwischen die Finger kommt. Die gehen nach Deutschland, weil sie denken, daß sie dort nicht arbeiten brauchen.“ Eine Mutter befiehlt ihrem Kind, nicht in die hinteren Reihen zu gehen. Der blonden Stewardeß steht die Abscheu ins Gesicht geschrieben. Auf die Frage, was sie gegen Roma habe, antwortet sie: „Die sind gefährlich und stinken.“ Niemand von den Abgeschobenen stinkt, auch nicht die zwölf Roma. Als die Stewardeß Getränke und Essen an sie verteilt, sieht sie aus, als müsse sie sich übergeben. Den Wagen mit Zigaretten und Alkoholika schiebt sie nicht bis nach hinten.

Von „lockerer, manchmal sogar ausgelassener Stimmung“, wie BGS-Beamte die Atmosphäre unter den Abgeschobenen beschreiben, ist auf diesem Flug nichts zu spüren. Sie reden wenig und leise, nur die Kinder der beiden Roma- Familien schreien und spielen. Auf die Frage, was sie in Rumänien machen werden, geben alle dieselbe Antwort: Nach Hause fahren, warten und irgendwann noch einmal probieren, sich nach Deutschland durchzuschlagen. Niemand hofft, in Rumänien eine Arbeit zu bekommen.

Fortsetzung auf Seite 11

Offiziell gibt es über eine Million Arbeitslose – fast 10 Prozent der Erwerbsfähigen. Dazu kommen ein paar hunderttausend, die sich nicht melden oder die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, vom Heer der Kurzarbeiter ganz zu schweigen.

Der Winter raubt den Menschen noch mehr Hoffnungen als sonst. Drei Jahre nach dem Umsturz bieten Händler überall Orangen und Bananen feil, aber viele wenden sich wieder ab, wenn sie die Preise sehen. Margarine, Käse und Wurst sind, wenn überhaupt, überteuert auf den grauen Märkten der Straße oder in privaten Läden erhältlich. Das Brot soll angeblich noch bis März reichen. Die Temperaturen steigen selten über den Nullpunkt. Warmwasser gibt es nur stundenweise, und die Bewohner in den Neubauten können sich glücklich schätzen, wenn die Zentralheizung angestellt wird. Wenn sie, wie so oft, nicht angestellt wird, dann ist die Vorstellung, nachts durch die eiskalte Oder zu schwimmen, schon weniger abschreckend.

Auf dem Flughafen Bukarest- Otopeni bekommen die Abgeschobenen ihre Pässe ausgehändigt. Dann dürfen sie gehen, wohin sie wollen. Kaum je wartet jemand auf sie. Vor allem die Roma werden mißtrauisch oder abschätzig von den Wartenden beäugt. Ein rumänischer Wachsoldat rümpft die Nase. „Zigeuner? Die müßte man alle umbringen! Oder sie irgendwohin schaffen und einmauern!“ Für die Taxifahrer ist immer ein Geschäft drin, besonders wenn eine der vielköpfigen Roma-Familien ankommt. Das Feilschen um den Preis nimmt geraume Zeit in Anspruch, und alle Beteiligten schreien, so laut sie können – ein Ritual. Der Taxifahrer streckt entrüstet die Hände gen Himmel: „Mein Gott, mein ganzes Leben lang fahre ich euch abgeschobene Zigeuner zum Bahnhof. Was bleibt mir da?“ Und der Rom legt die Hände auf seine Brust: „Aber siehst du, Bruder, sie haben uns alles gestohlen in Deutschland. Was können wir machen?“ Am Ende sind sich alle handelseinig.

Meistens fliegen drei Beamte des Bundesgrenzschutzes in Zivil mit und bleiben bis zum nächsten Rückflug in Bukarest. Sie verlassen den Flughafen schnell. Was sie in Bukarest zu suchen haben, verraten sie nicht. „Kein Kommentar, wir sind privat hier“, lautet die stereotype Antwort.

„Jeder wird nach den Grenzkontrollen freigelassen“

Neben den regulären Linienmaschinen kommen speziell für Abschiebungen gecharterte Flugzeuge auf dem Nachbarflughafen Baneasa an. Wann, das kann oder will niemand sagen. Ein Mitarbeiter der Grenzdirektion des Innenministeriums behauptet, seiner Behörde würden die Deutschen die Ankunftstermine immer nur einige Stunden vorher mitteilen, da Deutschland keine allzu große Publizität wolle. Und ein rumänischer Grenzbeamter am Flughafen Otopeni berichtet, daß mit diesen Maschinen Personen abgeschoben werden, die „in Deutschland Probleme gemacht haben“.

Daß deshalb irgend jemand festgehalten wird, verneint der Chef der Grenzdirektion, Samoila Joarze, der gleichzeitig Regierungsbeauftragter für die Abschiebungen ist. „Ob die Abgeschobenen in Deutschland mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind oder nur mit provisorischen Reisedokumenten ankommen, ist egal. Jeder wird wird nach den Grenzkontrollen freigelassen.“

Am 2. Dezember ist Ion abgeschoben worden. Seinen Familiennamen nennt er nicht, denn er will wieder nach Deutschland. Bis zum 7. April 1991 wohnte er in Bolintin Deal, einem Dorf zwanzig Kilometer westlich von Bukarest. Am Abend des vorherigen Tages hatte ein im Dorf wohnender Rom einen Rumänen im Streit getötet – es sei um gestohlene Pferde gegangen, schrieben die Zeitungen damals. Der Rom wurde verhaftet, die Behörden leiteten ein Verfahren gegen ihn ein. Doch den rumänischen Bewohnern reichte das nicht aus. Am nächsten Morgen zogen sie zu einer der beiden Roma-Siedlungen im Dorf und brannten die Häuser und einige Autos nieder. Die Polizei schritt erst ein, als der Mob zu Ende gewütet hatte – wie bei den meisten der über 20 Pogrome, die seit Januar 1990 gegen Roma begangen wurden.

„Die Rumänen in Bolintin Deal haben uns Zigeunern gesagt, daß wir abhauen sollen. Ich bin abgehauen, nach Deutschland, bei Görlitz illegal über die Grenze“, sagt Ion. Er stellte einen Asylantrag, wohnte zunächst in Berlin, später in Rostock. Seine Frau kam mit den drei Kindern nach. Im August verhaftete ihn die Polizei; er wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Warum, wisse er nicht, sagt Ion, er habe nichts getan. Nach vier Monaten Gefängnis schoben ihn die Behörden ab. „Meine Frau wohnte in Rostock, als die Nazis ihre Angriffe machten. Jetzt ist sie irgendwo in der Nähe von Rostock, aber ich habe seit Wochen keine Nachrichten von ihr. Ich habe Angst, weil ich nicht weiß, was mit ihr ist. Vielleicht wird sie jetzt auch abgeschoben.“

Mittlerweile lebt Ion bei Freunden in der Siedlung „30. Decembrie“, ein paar Kilometer südlich von Bukarest. Hier, im sogenannten sector agricol, der um Bukarest gezogen wurde, sieht es genauso aus, wie der Name der Siedlung vermuten läßt. Entlang der Straße erstrecken sich halbverfallene Neubauten. Überall liegen Betonteile herum, statt Bäume sind nur Müll- und Sandhaufen zu sehen, auf denen verwilderte Hunde herumstreunen. Für die Kinder gibt es keinen Spielplatz. Als eine junge Rumänin sieht, daß der Fotograf Bilder von ihnen macht, kommt sie wütend angelaufen und schreit: „Ich habe die Nase voll von euch westlichen Journalisten. Ihr glaubt, ihr seid zivilisiert und kommt nur her, um über den rumänischen Dschungel zu berichten.“ Wir erklären ihr, daß wir wegen der abgeschobenen Roma hier sind. „Ach ja?“ schreit sie noch lauter und geht wütend weg. „Das ist ja noch schöner! Ich kann die Zigeuner nicht ausstehen!“

Der Kreisvorsitzende der Demokratischen Union der Roma, Stan Matache, sagt, Roma und Rumänen würden hier friedlich zusammenleben. Probleme bereite den Roma dagegen die lokale Landwirtschaftskommission, die für die Verteilung des ehemals genossenschaftlichen Bodens zuständig ist. Viele Roma-Familien, auch aus anderen Siedlungen des Kreises, haben ein Stück Land beantragt. Aber keine von ihnen, berichtet Matache, hat etwas erhalten, obwohl die Landverteilung längst weit fortgeschritten ist.

Donica, den die deutschen Behörden im September abgeschoben haben, ist von der Landzuteilung mit der Begründung ausgeschlossen worden, er gehe keiner festen Arbeit nach. Er lebt mit seiner Frau und seinen sechs Kindern in einem kleinen Haus ohne fließendes Wasser. Dafür besitzt er, wie die meisten Roma hier, einen Videorecorder, auf dem gerade ein japanischer Karate-Film läuft, als wir kommen. „Niemand gibt mir Arbeit“, sagt Donica, „ich dachte, ich bekäme wenigstens ein Stück Land. Was soll ich jetzt machen? Ich muß wohl stehlen gehen.“

Die Roma haben keine Lobby wie andere Minderheiten, denen das Mutterland zur Hilfe kommt. In Rumänien ist es bis heute ein Tabu, über die Vernichtung von etwa 40.000 Roma durch die faschistische Antonescu-Diktatur zu sprechen. Sogar liberale rumänische Intellektuelle bezeichnen diese Tatsache als „antirumänische, antipatriotische Propaganda“. Unter dem Kommunismus wurden Roma in den Baragan, eine Steppe in Südrumänien, deportiert, Ceaușescu ließ sie zwangsumsiedeln und beraubte sie durch das Verbot des privaten Gewerbes ihrer Existenz.

Nicht lange nach dem Umsturz fingen die Pogrome an. Roma wurden für alles verantwortlich gemacht – für die Ausschreitungen der Securitate bei den Aufständen im Dezember 1989, für den Schwarzhandel, für die hohen Preise, für die Kriminalität. Anders als alle anderen sind sie nicht nur die Leidtragenden der ökonomischen Misere, sondern gleichzeitig Sündenböcke. Von den 30 Millionen Mark, die Deutschland bis 1994 auf rumänische Konten überweisen will, damit das Land seine Menschen zurücknimmt, bekommen die Roma und ihre Organisationen keinen Pfennig.

Bleibt ihnen tatsächlich nur das Stehlen? Im Fall einer Roma-Familie in Lugoj, die Anfang Dezember aus Deutschland abgeschoben wurde und nun bei Verwandten lebt, machen wir unsere eigenen Erfahrungen. Während wir sie besuchen, herrscht ein unübersichtliches Durcheinander. Kinder laufen durch das Zimmer, spielen und streiten, die Erwachsenen kommen herein und gehen wieder raus, und irgend jemand nutzt einen Moment der Unaufmerksamkeit. 1.200 Mark verschwinden – unser gesamter Reiseetat. Niemand war es. Wir hätten das Geld anderswo verloren, reden die Anwesenden auf uns ein. Nach langem Hin und Her gehen wir schließlich und sagen: Wenn wir wiederkommen, liegt das Geld auf dem Tisch. Als das Geld zum festgetzten Zeitpunkt noch immer nicht auftaucht, benachrichtigen wir die Polizei.

Für die ist der Fall klar, als wir den Namen der Familie erwähnen. „Ach so, diese Zigeunerfamilie“, sagt ein Polizist, „die kennen wir schon, die hatten öfter mit uns zu tun.“ Später bestätigt der Polizeichef von Lugoj, Doru Brinovan, daß gegen die Familie bisher nichts vorlag. Der ermittelnde Beamte stellt die Familie vor die Alternative „Geld oder Gefängnis“ und setzt einen Übergabetermin auf der Polizeistation fest. Dort hat die Geschichte längst die Runde gemacht. Die Polizisten schütteln die Köpfe: „Da habt ihr eure Zigeuner, ihr westlichen Humanisten. Jetzt seht ihr endlich die Realität.“ Pünktlich zum Ablauf der Frist kommt der Polizeichef herein und zählt mit vorwurfsvollem Blick 1.200 Mark auf den Tisch.

Die offiziellen Statistiken sagen, daß der Anteil der von Roma begangenen Straftaten von 11 Prozent im Jahr 1991 auf schätzungsweise acht Prozent im Jahr 1992 gesunken ist – und damit noch unter ihren Bevölkerungsanteil von rund 10 Prozent. Die Gesellschaft will das nicht wahrnehmen. Wenn ein Rumäne stiehlt, beweist das nur, daß eine Straftat begangen wurde. Wenn ein Zigeuner stiehlt, beweist das, daß alle Zigeuner schon immer Kriminelle waren. Ein Polizist in Lugoj warnt uns. „Da haben Sie noch mal Glück gehabt. Normalerweise fackeln die Zigeuner nicht lange. Die rauben ihr Geld, erstechen Sie, packen sie in einen Sack und schmeißen sie in den Fluß.“

„Ich bin wieder nach Hause gekommen“

Der Polizeichef und sein Stellvertreter, Dorel Nacu, sagen, daß die Roma – 4.000 von insgesamt 70.000 Einwohnern in Lugoj – keine besonderen Probleme verursachen würden, weil viele durch Handel mit Autos, Textilien und anderen Waren wohlhabend geworden seien. Roma und Rumänen würden friedlich zusammenleben. „Wenn wir einmal einen Fall wie Ihren nicht lösen können, gehen wir zum Bulibascha, mit dem wir gute Beziehungen haben“, erzählt Dorel Nacu über das Oberhaupt aller Roma in der Stadt. „Er sagt uns nie die Namen, aber er bringt uns immer das Geld.“

Der Bulibascha von Lugoj, genannt Petru, ist ein Mittvierziger, elegant angezogen und läßt sich gerade ein großes Haus bauen. Als der Polizeichef sieht, daß hier Rumänen arbeiten, kann er sich nicht verkneifen zu bemerken: „Tja, die Zigeuner kommandieren, die Rumänen arbeiten.“ Der Bulibascha lächelt überlegen, undurchdringlich und blickt den Polizeichef mit einer Miene an, als wolle er sagen: „Du kleiner Bulle, du gajo“ – in romanes das Wort für alle Nicht- Roma, das auch Staatsbürger oder Bauer bedeutet. Ebenso undurchdringlich und kühl sagt er, daß die Roma in Lugoj nicht unter Diskriminierung zu leiden hätten und die meisten Abgeschobenen aus Deutschland sich problemlos wieder integrieren würden.

Arpad Savu wird irgendwie durchkommen. Er schraubt an seinen Autos und muß neue Ausweise für seine Kinder beantragen. Die deutschen Behörden haben ihm die Dokumente seiner Kinder nicht zurückgegeben, als er mit seiner Familie abgeschoben wurde. Während er vom Rathaus ins Notariat und dann zur Post auf der großen Einkaufsstraße von Lugoj geht, schaut er sich immer wieder um, als sähe er die Stadt zum ersten Mal. Zwei Roma rufen aus einem Fenster herunter: „He, was machst du hier?“ Savu blickt hoch und lacht. „Bin wieder nach Hause gekommen.“