„Vielleicht kommt einmal mein Vater“

Kinder auf der Flucht: Im Übergangsheim für minderjährige AsylbewerberInnen in Treptow treffen sich Jugendliche, in deren Heimat Krieg, Hunger oder Verfolgung herrschen  ■ Von Corinna Raupach

Treptow. Die Narbe, die sich über seine Stirn bis in den Haaransatz zieht, stammt von einer Kalaschnikow. „Damit haben mich die Leute vom syrischen Geheimdienst geschlagen, als ich zum zweiten Mal dort inhaftiert war. Ich war danach fast vier Wochen ohne Bewußtsein. Daß sie geschlagen haben, war aber normal. Beim ersten Mal haben sie mir die Füße mit einem Seil zusammengebunden und mit meinem Rücken den Boden gewischt.“ Abbas J. ist 17 Jahre alt. Als Graphiker habe er für eine oppositionelle Gruppe gearbeitet und nachher selbst für die Demokratisierung des Libanon demonstriert, sagt er. Als der dritte Haftbefehl kam, floh er zuerst in einen der christlich kontrollierten Teile Beiruts und dann über einen Schlepper nach Deutschland. 3.500 Dollar hat sein Vater, der mit einer Speditionsfirma und einem Kosmetikgeschäft für libanesische Verhältnisse äußerst betucht ist, für die Reise bezahlt.

Kinder sollen das Überleben der Familien sichern

„Wir haben öfters Kinder aus wohlhabenden Familien hier, die das Leben ihrer Kinder in Kriegen oder wegen politischer Bedrohung retten wollen“, sagt Jürgen Schmidt, stellvertretender Leiter der Erstaufnahmeeinrichtung für minderjährige alleinstehende AsylbewerberInnen. Einmal sei sogar der Sohn eines Stammesfürsten und Religionsoberhauptes eines afrikanischen Stammes hiergewesen, der nach den religiösen Vorschriften eigentlich hätte geopfert werden müssen.

„Die Kinder kommen dann hier an, meist mit nichts als ihren abgerissenen Klamotten und der riesigen Verantwortung, das Überleben der Familie zu sichern.“ In der Erstaufnahmeeinrichtung dürfen sie sich dann erst mal satt essen, ausschlafen, und dann wird geklärt, woher sie kommen und was weiter mit ihnen geschehen soll. Die meisten werden in Anschlußeinrichtungen untergebracht, manche haben auch Verwandte oder Freunde in Deutschland. „Das Haager Abkommen zum Schutz von Minderjährigen verbietet, daß diese abgeschoben werden und verlangt pädagogische Betreuung“, erläutert Schmidt. Die Jahre zwischen 12 und 18 seien für den weiteren Weg eines Menschen entscheidend. „Wir bemühen uns, den Jugendlichen für diese Zeit eine Perspektive zu geben: Schule, Ausbildung.“

„Die Leute hier wissen gar nicht, was bei uns los ist“

Der 17jährige Abdul will unbedingt etwas lernen, „am liebsten etwas mit Flugzeugen“. Ihm ist es gleich anzumerken, daß er aus guter Familie kommt. Die mandelförmigen Augen blicken freundlich und aufmerksam, sein klassisch geschnittenes Gesicht zeigt gleichbleibende Höflichkeit. Sein Vater war im ZK unter Nadschibullah für wirtschaftliche Fragen zuständig. Seine Mutter ist Russin und heute noch stolz auf ihren deutschen Mädchennamen. „So war ich von zwei Seiten belastet, wenn man das als Belastung sehen will“, sagt er.

Sein Vater wurde verhaftet, und niemand kann sagen, was aus ihm geworden ist. Freunde von ihm ermöglichten seiner Frau, mit ihren drei Söhnen in die Ukraine zu fliehen. „Ein Mann, der sich auskannte, hat mich in die ČSFR mitgenommen. Papiere hatte ich keine, an den Grenzen sagte er immer nur: Halt den Mund und paß auf, du bist mein Sohn.“ Er würde gern in Deutschland bleiben. Seine Großmutter hatte noch auf dem Sterbebett den Wunsch geäußert, nach Deutschland zurückzukehren. „So erfülle ich ihre Träume.“ Er habe sich das Land sauberer vorgestellt, schätze aber die Freiheit, sagt er.

Wenn er auf sein eigenes Land zu sprechen kommt, wird sein Ton heftiger. „Die Leute hier sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, die wissen gar nicht, was bei uns los ist“, sagt er. „In den meisten Städten ist es ruhig, aber in Kabul herrscht Bürgerkrieg. Das ist, wie wenn das Viertel um den Ku'damm herum – ich finde, das schönste Viertel von Berlin – gegen das daneben kämpft und das wiederum gegen drei andere.“

Ankunft in Berlin: Barfuß im Oktober

Für das Flugticket von Oktito haben seine Schwester und er das Haus ihrer Eltern verkauft. Trotzdem reichte das Geld nur von Kinchasa, Zaire bis Prag. Dort verkaufte er seine Schuhe und seine Jacke und kam mitten im Oktober barfuß, nur in Hose und Hemd, in Berlin an. Seine Eltern sind beide tot, er hat nur diese eine Schwester, die vor seiner Abreise zu ihm gesagt hatte: „Vielleicht hast du eine Chance, und wenn du Geld verdienst, kannst du auch mir helfen.“

Seit er den einzigen Brief, den sie bislang schrieb, erhalten hat, sitzt er den ganzen Tag bewegungslos herum, starrt in die Ferne und knirscht mit den Zähnen. Seine Schwester hungert. „Mein Vater ist verhungert, als ich acht war“, sagt er. „Ich will nicht, daß es ihr genauso geht.“ Doch die 14,35 Mark, die er täglich bekommt, um sein Essen, Zahnpasta und die BVG-Karte zu bezahlen, reichen schon für ihn kaum.

„Bei den Geschichten, die die Kinder hinter sich haben, können wir manchmal nur mitweinen“, sagt eine Betreuerin. „Zum Beispiel das kleine Mädchen aus dem ehemaligen Jugoslawien, das von seinem erwachsenen Bruder getrennt werden mußte. Ihr wurde so schlecht, daß sie sich dreimal übergab.“ Andere Kinder wachen Nacht für Nacht mit Schreikrämpfen auf, wie die beiden 14jährigen Schwestern, die wochenlang durch bosnische Wälder irrten, sich von Brennesseln und Wurzeln ernährten und in dieser Zeit mitansehen mußte, wie die älteren Frauen von Serben aufgespürt und vergewaltigt wurden.

„Es passieren aber auch lustige Dinge hier“, erzählt Schmidt. „Ein Junge aus Äthiopien wollte sich seine Haare noch schwärzer färben als sie ohnehin schon waren. Seine Kumpels waren nachher auch ganz begeistert, aber es dauerte Tage, bis die Schuhcreme von den Händen und aus der Dusche verschwunden war.“ Nikolae, ein Roma aus Polen, hat sich vor zwei Tagen sein Taschengeld zu weit im voraus auszahlen lassen. Als er dann einen Teil zurückgeben soll, zückt der kleine Junge mit den runden, pfiffigen Augen ungerührt sein Portemonnaie, blättert zwischen ein paar Zehnern und erstattet das Geld sogar mit Zinsen zurück. „Der hat beim Spielen mal gewonnen“, sagt der stellvertretende Leiter.

Nikolae hat als einziger von sieben Geschwistern bei seinem Vater gelebt. „Der hat viel getrunken, und wenn er mit seinen Weibern herumgemacht hat, mußte ich immer raus auf die Straße.“ Dort ging der jetzt 16jährige durch eine harte Schule. „Der hat Überlebenstechniken, da wird einem kalt“, sagt Schmidt.

„Ich wollte nicht für die Serben in den Krieg“

Branislav kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wenn er nicht Termine bei der Ausländerbehörde oder beim Arzt hat, bringt er einer Gruppe von kleineren Jungen im Tischtennisraum Karate bei. „Zu Hause in der Woiwodina habe ich den Nachwuchs unseres Vereins trainiert und selbst bei Wettkämpfen mitgemacht“, sagt er stolz. „Ich wollte nicht für die Serben in den Krieg und auf meine Freunde oder andere Moslems schießen. Die nehmen jeden, der laufen kann.“ Er fühle sich wohl hier, nur um seinen Vater mache er sich Sorgen, der könne auch jederzeit an die Front geschickt werden, sagt er und blickt auf den grauen Linoleumboden in seinem Zimmer. Über sein Bett hat er ein großes Poster von Madonna im Lederdress gehängt, neben einer chromblinkenden Motorhaube und einigen aus dem Quellekatalog herausgerissenen Seiten mit Damenbademoden.

Das Zimmer, das er sich mit zwei Jungen aus Rumänien teilt, ist karg möbliert. Auf dem grauen Linoleum stehen drei Eisenbetten, drei abschließbare Spinde, ein paar Stühle. Er gibt sich einen Ruck: „Aber ich bin viel unterwegs, ich kenne schon ganz Berlin. Ein deutsches Mädchen, das ich in einer Disco kennengelernt habe, hat mir sogar ihre Adresse gegeben. Und vielleicht schafft es mein Vater ja auch, herzukommen.“