Gelogen habe er nicht, Ehrenwort, verteidigte sich gestern in Bonn der amtierende Bundeswirtschafts- minister vor der versammelten Presse. Der ständige Berufsstreß sei es gewesen, der eine „hinreichende Prüfung“ des „Vorgangs“ erschwert habe. Nach 14 Tagen „Briefbogenaffäre“ gab der 47jährige FDP-Politiker zu, die Empfehlungsschreiben an sieben Handelsketten zugunsten eines Verwandten doch persönlich unterschrieben zu haben. Nur widerwillig reichte der gewiefte Karrierist seinen Rücktritt ein.

Vetter Möllemann empfiehlt sich

Jürgen Möllemanns Rücktritt in der Inszenierung von Jürgen Möllemann: eigentlich eine Tragödie. Der Mann, der gestern mittag im Pressesaal des Wirtschaftsministeriums sein Abtreten erklärte, war nicht Jürgen Möllemann, „das intrigante Schwein“, als das ihn etwa Parteifreundin Irmgard Schwaetzer bisher mißverstanden hatte. Es war auch nicht Jürgen Möllemann, der zügellose Karrierist und Vorteilsnehmer. Nein, hier stand Jürgen Möllemann, das Opfer seines Fleißes und seines Engagements für die Behinderten.

Die Werbebriefe für die Firma seines angeheirateten Vetters habe er zwar selbst unterschrieben, das habe eine von ihm selbst aus dem Urlaub aus angestrengte Untersuchung ergeben, teilte Möllemann mit. Leider habe er anfangs versäumt, eine „hinreichende Tatsachenklärung“ herbeizuführen und deshalb unwissentlich die falsche Darstellung gegeben, die Rundschreiben an verschiedene Handelsketten seien auf Blankobögen mit seiner Unterschrift und ohne sein Wissen verfaßt worden. Gewiß ein Versäumnis, doch von Möllemann durch seine „Inanspruchnahme durch wichtige Termine“ entschuldigt: „Gelogen habe ich nicht.“

Eigentlich, so seine überraschende Erklärung, habe die ganze Sache einem untadeligen Zweck gedient. Es wären nämlich Behindertenwerkstätten gewesen, die die Einkaufswagenchips hätten herstellen sollen, die die Firma seines Vetters verkaufen wollte. Dies hätten sein Vetter und der Geschäftsführer der Firma in einem Gespräch mit seinem persönlichen Referenten im Januar oder Februar 1992 erklärt. Es sei „diese soziale Komponente“ gewesen, die für ihn, Möllemann, den Ausschlag gegeben habe.

Der Minister muß selbst geahnt haben, daß diese Deutung nicht jedermann sofort überzeugen würde. So hatte er eine Reihe weiterer Beispiele für das Wirken des Nothelfers Möllemann parat. Ein Betriebsrat einer Firma in seiner Heimatstadt Münster habe sich an ihn gewandt, weil dem Betrieb die Schließung durch die Muttergesellschaft in den USA gedroht habe. Er, Möllemann, habe sich bei dem Konzern darauf „nachdrücklich“ für den Betrieb eingesetzt. Eine 35jährige Krankenschwester habe Ärztin werden wollen, aber kein Stipendium erhalten. Möllemann engagierte sich. Heute habe die Frau ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung.

In diese Reihe wollte der Wirtschaftsminister auch seinen Einsatz für den Wunderheiler von Warendorf verstanden wissen. Viele Eltern hätten ihm bestätigt, daß dieser Mann Kindern geholfen habe, die „kurz vor dem Tode“ gestanden hätten. Stets werde beklagt, schimpfte Möllemann, daß die Bonner Politik nicht bürgernah genug sei. Das habe er sein wollen. Und es sei „zum Kotzen“, daß ihm dies nun zum Nachteil ausgelegt worden sei.

Im Fall der Einkaufswagenchips wäre es wegen der Beteiligung seines Vetters an der begünstigten Firma sicherlich besser gewesen, die Briefe wären nie geschrieben und abgeschickt worden, so räumte der Minister ein. Ein Fehler sei es auch gewesen, daß das ausschlaggebende soziale Anliegen nicht in den Schreiben erwähnt worden sei. Ein „grobes Versäumnis“, eine Pflichtverletzung gar, das seien die Schreiben aber keinesfalls gewesen, beteuerte Möllemann.

Die Verantwortung für die Briefe müsse er übernehmen, räumte er ein. Aber er versäumte es auch nicht, ausführlich darauf hinzuweisen, wie schwer so eine Ministerverantwortung drücke. Gerade im Februar und März habe er unter „äußerster Beanspruchung“ gestanden, 520 Arbeitsstunden absolviert, in manchen Wochen fünfzig bis siebzig Stunden geackert. Sage und schreibe 3.645 Ministerbriefe, Ministervorlagen, Briefeingänge und Einladungen seien ihm in dieser Zeit vorgelegt worden – auch diesen Sachverhalt hatte Möllemann über Weihnachten von seinem Ministerium ermitteln lassen, während er sich in der Sonne der Dominikanischen Republik vom Bonner Streß erholte.

Für sich genommen, so Möllemanns Fazit, seien die Empfehlungsschreiben für des Vetters Firma nicht einmal ein Rücktrittsgrund. Daß er sich dennoch zu diesem Schritt entschlossen habe, habe andere Gründe. „In dieser bedeutsamen Zeit“ brauche ein Wirtschaftsminister seine ganze Kraft für andere Dinge, und er brauche die „volle Rückendeckung“ der Koalitionsfraktionen. Aus Ostdeutschland hätten ihn schon Briefe von Bürgern erreicht, die nicht verstanden hätten, daß diese Affäre andere, wichtigere Fragen in den Hintergrund drängen könne.

Möllemann legte Wert darauf, die Rücktrittsentscheidung aus eigenem Antrieb getroffen zu haben. Das FDP-Präsidium, das sich am Vormittag mit der Affäre befaßt hatte, habe ihn nicht gedrängt. Vielmehr habe er den Parteispitzen auf der Sitzung seine Entscheidung mitgeteilt, über die er zuvor auch den Bundeskanzler informiert habe.

Der Noch-Minister teilte auch Schelte aus. In den Medien sei die Anlegenheit zum Teil weit überdimensioniert und „unfair“ dargestellt worden. Seine Familie, seine Kinder seien ständig von Kameraleuten belästigt worden. Der Verweis auf die fehlende Rückendeckung durch die Fraktionen von CDU/CSU und FDP ließ sich so auch als Kritik an deren Möllemann-Kritik lesen. Warum viele bereit gewesen seien, über ihn „sehr schnell den Stab zu brechen“, das solle man doch die Kritiker fragen, riet er.

Möllemann, der Nothelfer, muß gehen. Auftritt Möllemann, der unerschrockene Liberale. Parteichef wolle er nicht werden, wohl aber Bundestagsabgeordneter und FDP-Chef von Nordrhein-Westfalen bleiben, kündigte er an. In diesen Funktionen werde er sich mit ganzer Kraft dafür einsetzen, das liberale Profil der FDP zu schärfen.

Diese Worte ließen sich auch als Retourkutsche an die Adresse von Parteichef Otto Graf Lambsdorff lesen, der in den vergangenen Tagen öffentlich Fragezeichen hinter den Amtsverbleib seines Parteifreundes Möllemann gesetzt hatte.

Die Parteifreundin Hildegard Hamm-Brücher, die mehrfach den Kopf des Wirtschaftsministers gefordert hatte, griff Möllemann sogar offen an. Sie habe es, so Möllemann, bis heute nicht verwunden, daß sie vor zehn Jahren in ihrem Amt als Staatsministerin im Außenministerium von ihm abgelöst worden sei. Da war er wieder – ganz der alte. Hans-Martin Tillack, Bonn