■ Solidarität in der Zweidrittelgesellschaft
: Waigels Signal

Appelle an die Solidarität der Mehrheitsbevölkerung zum Teilen zugunsten benachteiligter Sektoren der Gesellschaft sind gemeinhin die letzten Mittel der Politik, erhöhte Zahlungsbereitschaft bei denen zu erwecken, die sachlichen oder funktionalen Motiven nicht zugänglich sind. Der Rückgriff auf moralische Kategorien wie Gemeinsinn oder nationale Zusammengehörigkeitsgefühle will mithin bei den Wahlbürgern Ressourcen mobilisieren, die für die Politik auf herkömmliche Weise nicht erreichbar sind. Auf Solidaritätsformeln zurückgegriffen wird freilich auch dann gern, wenn der Verwertungsprozeß von Kapital unter dem Druck steigender Kosten in eine Krise gerät und infolgedessen die Investitionen sinken und die Arbeitslosenzahlen ansteigen. Mäßigung lautet die wirtschaftspolitische Rezeptur, die den Lohn- und Gehaltsempfängern abverlangt wird.

Die Opferbereitschaft kann überstrapaziert werden, wenn die Politik von den Bürgern als Wählern und Steuerzahlern sowie als Produzenten Verzicht abverlangt. Erkannt hat dieses Dilemma als erster Bundesfinanzminister Theo Waigel. Seine neujährliche Initiative, das Arbeitslosengeld sowie die Arbeitslosen- und Sozialhilfe um linear drei Prozent zu kürzen – von Kanzler Kohl staatsmännisch umgehend als „ein Stück Abschlagszahlung“ für eine gemeinsame Zukunft sprachlich erhöht –, ist nicht nur ein unsozialer Streichversuch bei den Ärmsten und Benachteiligsten der Gesellschaft. Sie ist in erster Linie der Versuch, die finanziellen Lasten einer fehlgeschlagenen Politik der deutschen Einheit auf die wehrlosesten, weil lobbyschwächsten Teile der Bevölkerung abzuwälzen – und damit auch ein Signal an die politisch gut organisierten Interessen, von der allseits reklamierten Opferbereitschaft nicht allzu sehr in Anspruch genommen werden.

Diese bewußte Instrumentalisierung der Zweidrittel-Realität – würde sie Realität – darf als eine Kehrtwende der konservativ-liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik bezeichnet werden, würde doch nichts weniger als ein zentraler impliziter Sozialkontrakt der bundesdeutschen Gesellschaft aufgelöst. Fehlleistungen der politischen Klasse zum Abbau sozialstaatlicher Grundleistungen zu nutzen und sich der politischen Verantwortung zu entziehen, indem immer neue Verursacher des finanziellen Desasters benannt und denunziert werden, signalisieren eine politische Verzweiflung, die bereit zu sein scheint, aus Gründen nackten Machterhalts die letzten legitimatorischen Grundlagen des republikanischen Gemeinwesens zu demontieren. Kurt Hübner

Professor für Wirtschaft an der Gesamthochschule in Kassel