„Solidarpakt“ – eine weitere Krisenoperation

■ Angesichts klaffender Haushaltslöcher und explosiver Gemengelage setzt Kohl auf Konsens – doch die Verteilungsspielräume für einen Solidarpakt sind eng

Helmut Kohl steht wieder einmal im Wort. Mit staatlichen Eingriffen soll die Industrie in Ostdeutschland vor dem vollständigen Zusammenbruch bewahrt werden. Über die triste Lage in den neuen Bundesländern macht sich selbst der Kanzler, der noch vor einem Jahr von blühenden Industrielandschaften und einem zweiten Wirtschaftswunder träumte, inzwischen keine Illusionen mehr. Angesichts der Pleite verordnete der Regierungschef einen ordnungspolitischen Kurswechsel: Die Sanierung unrentabler Staatsbetriebe, diktierte Kohl in seinem jüngsten Positionspapier, sei von nun ab „strategisches Ziel“ der Regierung.

Doch der letzte Versuch, noch zu retten, was zu retten ist, hat einen hohen Preis. Bis heute konnte das teuerste Konjunkturprogramm aller Zeiten, mit dem jährlich rund 140 Milliarden Mark vom Westen in den Osten transferiert wurden, dort nicht mehr als eine Scheinblüte erzeugen. Nachdem die Marktwirtschaft offensichtlich versagt hat, muß jetzt der Staat mit neuen siebenstelligen Dauersubventionen für die Ostbetriebe aufkommen. Die Kosten für den Wiederaufbau in Ostdeutschland wachsen ins Unermeßliche. Doch Geld spielt keine Rolle: Wird 1993 nicht geklotzt, da sind sich die Unionsstrategen längst sicher, geht die Partei bei den nächsten Bundestagswahlen baden.

Wie jedoch das nötige Kleingeld dafür in die schon leeren Bonner Kassen kommen soll, weiß in der Kohl-Truppe keiner. Und da der Unmut über die aufgebürdeten Lasten in der Bevölkerung bereits am Siedepunkt angelangt ist, drängt der Kanzler zum Solidarpakt. Die Idee ist gleichermaßen simpel wie praktisch: Alle, Regierung und Opposition, Arbeitgeber und Gewerkschaften, sollen an einen Tisch, um ihre Ansprüche einem nicht mehr vorhandenen Verteilungsspielraum anzupassen. „Jeder muß seinen Beitrag zum Solidarpakt leisten“, postulierte der Kanzler das Weihnachtsmotto 92, Tabus dürfe es dabei nicht geben. Ein solcher Pakt, so schwebt Kohl vor, könne auch den Streit über Gewinner und Verlierer der Einheit, den Verteilungskampf zwischen Geschröpften und Kostgängern beilegen helfen.

Doch ob er überhaupt zustande kommt, steht in den Sternen, denn angesichts der benötigten Masse ist die Finanzierung mehr als umstritten. Allein der Haushalts-Nachschlag 93 für den ausgebliebenen Aufschwung Ost beläuft sich auf rund 17,5 Milliarden Mark. 25 Milliarden hat die Treuhand im letzten Jahr in die Sanierung der maroden Ostunternehmen gesteckt. In diesem Jahr werden es noch deutlich mehr werden. Die Schulden steigen, und angesichts der angebrochenen Rezession drohen zudem Steuerausfälle in Milliardenhöhe. Sparen, sparen, sparen – so lautet die Devise. Doch wie und wo?

Das Geld, so stellt sich es das Kanzleramt vor, soll aus dem verwöhnten Westen kommen. Subventionen sollen gekürzt, Steuervergünstigungen für Besserverdienende gestrichen, vielleicht gar ein „Gerechtigkeitsabschlag“ für Beamte eingeführt werden. Geht es nach Theo Waigel, werden aber vor allem die Schwächsten der Gesellschaft zur Kasse gebeten. Bei Kindergeld, Sozialhilfe, Wohngeld, Erziehungsgeld und Studenten-Bafög hat der Bonner Kassenwart zum Streichkonzert geblasen. Mit dieser Horrorliste, vom SPD- Vize Oskar Lafontaine eilig in bundesdeutsche Pressestuben getragen, ist ein baldiger Abschluß des Konsens-Palavers jedoch erst einmal blockiert: Sowohl Sozialdemokraten als auch die Gewerkschaften quittierten die Aufstellung als „unsolidarisches Diktat“ und Kriegserklärung an den Sozialstaat.

Dabei hatte alles so erfolgversprechend ausgesehen. Die Gewerkschaften ließen sich das Zugeständnis der Regierung, den Staat zur Industriezentrale zu machen und Beschäftigungsgarantien für die neuen Kombinate einzugehen, mit Zurückhaltung in der diesjährigen Tarifrunde abhandeln. Auch die in Sachen „neue Beweglichkeit“ erprobten und mittlerweile erfahrenen Sozialdemokraten um Kanzleranwärter Björn Engholm wollten sich des Kanzlers Rückkehr zur Vernunft keineswegs verschließen, wenn nur die Reichen einigermaßen geschröpft werden. Doch gerade die jetzt durch die blinden Streichvarianten im sozialen Bereich zustande gekommene politische Pattsituation kann den Knoten bald wieder lösen – nämlich dann, wenn sparen allen weh tut.

Zunächst einmal aber droht der Solidarpakt im Gemenge der unterschiedlichen Interessenlagen zerrieben zu werden. Dabei rächt sich zusehends, daß die Regierung weder gegen den Abschwung Ost noch das klaffende Haushaltsloch ein schlüssiges Konzept vorlegen kann. Statt dessen übt sie sich in Krisenoperationen. Ständig werden neue Programme aufgelegt; aus dem fertigen Bundeshaushalt, in dem die Zuschüsse für die Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von rund sechs Milliarden Mark gestrichen wurden, sollen per Nachtragshaushalt weitere Milliarden herausgeschnitten werden. Doch nicht einmal alle Zahlen für die Rechenoperationen liegen auf dem Tisch, da die Regierung einen Kassensturz seit zwei Jahren vor sich her schiebt. Dabei hat der deutsche Schuldenberg alles in allem eine Größenordnung von 2.070 Milliarden Mark erreicht, ein Sechstel der Steuereinnahmen wird in der Zwischenzeit von der Schuldentilgung aufgefressen.

Das Ende der bisherigen Schuldenpolitik ist aber gleichzeitig der Beginn eines neuen Verteilungskampfes. Das Aufbauwerk im Osten erfordert einen Milliarden- Finanztransfer in die strukturschwachen neuen Bundesländer – und das auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus. Der Riß geht quer durch alle Parteien, Gewerkschaften und Verbände; Ossis kämpfen Seite an Seite gegen die wohlhabenden Wessis. Und während bei früheren Rezessionen es meist genügte, die Staatsausgaben den geringeren Einnahmen anzupassen und auf den nächsten Konjunkturaufschwung zu warten, geht es bei der jetzigen Wirtschaftskrise an die Substanz. Ohne zusätzliche Steuermilliarden aber, darin sind sich die Experten einig, ist ein gesamtdeutscher Ausgleich nicht zu schaffen.

Angesichts dieser Quadratur des Kreises starrt die Regierung fassungslos in den Abgrund. Niemand weiß, wie es weitergehen soll. Ob Haushalt, Aufbau Ost, Länder-Finanzausgleich, Bahnsanierung oder Steuerreform – Finanzminister Theo Waigel will, wie die Mehrzahl seiner Kabinettskollegen, die gewaltigen Finanzprobleme nicht einmal ernst nehmen. Der Regierung scheint es bei ihren Finanzmanövern ohnehin weniger um den Ostaufschwung als vielmehr um ein wahltaktisches Spielchen zu gehen: Helmut Kohl hat den BürgerInnen versprochen, die Steuern erst 1995 zu erhöhen. Erst dann, wenn die nächste Bundestagswahl gelaufen ist, wird ihnen die Rechnung präsentiert. Erwin Single