Kultische Handlung: Eiswette

■ Beobachtungen eines Bremer Rituals zur Beschwichtigung der Götter des Eises

Kultische Handlung: Eiswette

Beobachtungen eines Bremer Rituals zur Beschwichtigung der Götter des Eises

Ein kleiner Volksstamm im nördlichen Germanien feierte gestern das Ritual der „Eiswette“. Das Ritual dient vermutlich zur Beschwichtigung der Götter des Eises. Die kultische Handlung wird stets am Flußufer der Weser durchgeführt unter den wachsamen Augen von etwa dreihundert Menschen, die zu Fuß und mit allerlei Wagen angereist gekommen sind, aus der Stadt und für das Spektakel aus der ganzen Region. Bei Nieselregen stehen sie zusammen und reden über das nicht vorhandene Eis. Ein Conferencier erläutert den Eingeborenen das Schauspiel.

Allerlei wichtige Herren im Zylinderhut und Gehrock stellen das „Präsidium“ dar, eine Art Schiedsrichter-Gruppe. Sie stehen in einer Reihe. Neben ihnen stellen sich die „Eis-Novizen“ auf, sozusagen die Lehrlinge für das künftige Schiedsrichteramt. Sie passen haarscharf auf, um keine der liturgischen Handlungen, der zugehörigen magischen Sprüche und Bewegungen zu verpassen. Diese Novizen tragen eine andere Kopfbedeckung: eine Melone. Da diese Wette am Tag der Heiligen drei Könige ausgeführt wird, erscheinen auch die biblischen Figuren. Obgleich die Völkerstämme auch im Norden inzwischen gemischt sind, ist der „Mohr“ ein angepinselter waschechter weißer Bremer.

Der Hauptakteur, ein tapferes Schneiderlein, das wie ein solches friert, läuft im historischen Kostüm in Windeseile den Uferhang hinunter. Nach alter Tradition wird er mit einem drei-fachen „hep hep hurra“ von der gesammelten Mann-Schaft begrüßt. Der Eiswett-Schneider stammelt in wunderbar gemachter Verwirrung eine Entschuldigung für sein zu spätes Erscheinen: „Ich war schwimmen. In Bremen sollen ja fünf Bäder geschlossen werden, und da bin ich noch mal schnell schwimmen gegangen.“ Anhand dieser Aussage stellen wir fest, daß bei der Kulthandlung gerne ein aktueller politischer Bezug herbeigeredet wird, um die Zuhörerschaft bei Laune zu halten.

Das Marinecorps Nordsee aus Wilhelmshaven spielt zu einem Tusch auf, die Boote auf der Weser geben einiges Hupen von sich, und die Figur des Medicus Publicus (in wallender Lockenperücke) prüft die „Statuten“: ein Schneider von 99 Pfund und ein heißes Bügeleisen, und siehe: alles ist erfüllt. Mit dem Gesang „Wat mut, dat mut“ soll der Schneider nun mit dem hießen Eisen den nicht zugefrorenen Fluß überqueren. Gott sei Dank bleibt das Ritual menschenfreundlich. Damit der Schneider nicht ersäuft, setzt er mit einem Boot der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger über.

Die Schiedsrichter werfen Steine hinterher. Dann spricht das Präsidium: „Die Weser geiht!“ Und alles scheint wie erlöst.

Vivianne Agena