Nationalismus und Islamismus als politische Instrumente

■ Neue und alte Herrscher in den zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion

Als die Sowjetunion Ende 1991 aufgelöst wurde, da traten ihre mittelasiatischen Republiken nur widerwillig den Weg in die Unabhängigkeit an. Vor allem das Bewußtsein der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Rußland war stark, dies galt um so mehr, als sich alle ehemaligen Sowjetrepubliken mehr oder weniger entschlossen auf den Weg zum Kapitalismus begaben und sich schon bald die entsprechenden Krisensymptome zeigten.

In den Bevölkerungen der Region hingegen leben all jene Ressentiments, die koloniale Beherrschung, nationales Gefühl und Not hervorzurufen pflegen, Nationalismus und Islam sind die neuen politischen Kräfte in der Region. Einige Regierungen bleiben ihnen gegenüber distanziert, um Gewaltexzesse einzuschränken; andere hoffen mit Hilfe nationaler Agitation ihre Herrschaft zu festigen. Alle jedoch fürchten einen wachsenden muslimischen Fundamentalismus. Er ist einerseits Realität, wie in Tadschikistan, andererseits ein Popanz, mit dessen Hilfe die politischen Feinde gebrandmarkt werden; der entsprechende Gegenvorwurf ist „Kommunist“.

Merkwürdigerweise setzen sich historische Unterschiede noch heute in politischen Divergenzen fort. Bevor Mittelasien im 19. Jahrhundert erobert wurde, lebten in den Regionen des heutigen Kasachstan und Kirgisiens turksprachige Nomaden, die überwiegend erst im 18. Jahrhundert zum Islam bekehrt worden waren. Die Oasenregionen des heutigen Usbekistan und Tadschikistan waren hingegen seit Jahrtausenden wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentren und seit Jahrhunderten muslimisch; die Kultursprache war überwiegend Persisch, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung türkisch (usbekisch) sprach.

Die heutige Aufteilung Zentralasiens wurde nach politischen Kalkülen 1925 in Moskau vollzogen. Jetzt erst begann auch hier die Nationenbildung im modernen europäischen Sinne, und heute gibt es so tatsächlich nationalbewußte Usbeken, Tadschiken, Kasachen, Kirgisen und Turkmenen.

Turkmenistan hat relativ gute Chancen, aus der Wirtschaftskrise herauszufinden. Es verfügt über riesige Erdgasvorräte. Noch immer steuert der ehemalige KP- Chef Saparmurad Nijasow alles – nun mittels der „Demokratischen Partei Turkmenistans“. Oppositionsparteien gibt es nicht. Im März 1991 hatten 98 Prozent für den Erhalt der Sowjetunion gestimmt, im Oktober 1991 94,1 Prozent für die Unabhängigkeit.

Liberalere Regimes haben Kasachstan und Kirgisien. Bis vor einigen Jahren noch waren die Kasachen im eigenen Land eine Minderheit. Inzwischen haben sich die Gewichte zwar verschoben, der Norden des Landes ist aber noch immer überwiegend russisch. Da der Boden für nationale Konflikte somit bereitet schien, entschloß sich Präsident Nursultan Nasarbajew zu einer toleranten Nationalitätenpolitik und zur Unterdrückung extremistischer Organisationen. Unter den Russen traf dies Kosakengruppen, die den Anschluß Nordkasachstans an Rußland verlangen, unter den Kasachen unter anderem die „Alasch“- Partei, die die Vertreibung der Russen und eine Einigung der muslimischen Völker anstrebt.

Eine ähnliche Politik verfolgt der kirgisische Präsident Askar Akajew, der von der Opposition allerdings autoritärer Neigungen bezichtigt wird. Auch er wünscht, daß sein Land multiethnisch bleibt, und fördert die Abwanderung von Russen und Deutschen nicht.

Turbulenter geht es in Usbekistan, dem bevölkerungsreichsten der Staaten Mittelasiens zu. Politisch dominiert hier die gewendete Nomenklatura unter Präsident Islam Karimow. Das Bemühen, die selbst für sowjetische Verhältnisse bemerkenswerte staatliche Kriminalität zurückzudrängen, hielt bis fast 1989 an.

Inzwischen sind nicht nur alle verurteilten Gauner rehabilitiert worden, in einem neuen Personenkult wird der wegen Korruption 1983 abgesetzte frühere Parteichef Raschidow nun zum antirussischen, antibolschewikischen Volkshelden stilisiert.

In diesem Klima haben es Oppositionsparteien schwer. Aber es gibt sie. Die liberale, demokratische „Erk“ ist eine überwiegend intellektuelle Abspaltung der nationalistischeren „Birlik“ (Einheit). Sie kooperiert mit der „Islamischen Wiedergeburt“, die formell verboten, aber vor allem auf dem Land stark ist. Diese Partei strebt offiziell allerdings keinen „islamischen“, sondern einen säkularen, weltanschaulich toleranten Staat an. Für das öffentliche Leben soll jedoch auch in ihm der Islam bestimmend sein.

In Tadschikistan, wo die Zahl der „Rechtgläubigen“ besonders stark angewachsen ist, war und ist der Kampf zwischen alter Nomenklatura und neuen Kräften am blutigsten. Ein Oppositionsbündnis, das von der eher nationalistischen „Rastochez“ (Wiedergeburt) bis zur Partei der muslimischen Wiedergeburt, der stärksten oppositionellen Kraft im Lande, reichte, zwang den Präsidenten Nabijew, ein inkompetentes Musterexemplar der machtbesessenen alten Nomenklatura, im September 1992 zum Rücktritt. Fast ein halbes Jahr lang hatte er versucht, seine Gegner mit Gewalt zu überwinden.

Doch unabhänig davon, wie stark der radikale Islamismus in den einzelnen Republiken auch immer sein mag, entscheidend ist, daß er alle herrschenden Gruppen Mittelasiens — aber auch die russische Regierung — in Furcht versetzt hat. Erhard Stölting