Die Schule als Dienstleistungsbetrieb?

■ Streitgespräch über das Behörden-Papier "Mehr 'Autonomie" für Hamburgs Schulen?" Gerhard Lein, Mitautor der Studie und Leiter der Gesamtschule Lohbrügge, diskutiert mit Reinhard Behrens,...

taz: Herr Lein, wo braucht Schule mehr Autonomie?

Lein: Es gibt eine ganze Menge Punkte. Unter dem Stichwort „Die Schule gibt sich ein Profil“ waren in den letzten Jahren viele Schulen bemüht, Entscheidungsspielräume zu erweitern, für ihre Bedürfnisse, für ihren Stadtteil die Schule so zu strukturieren, daß das Angebot im Stadtteil von der Schülerschaft angenommen wird. Mehr Autonomie könnte ich mir zum Beispiel sehr konkret in Fragen der äußeren Schulverwaltung vorstellen — also bei der Vergabe von Räumen, der rechtlichen Stellung des Hausmeisters, Öffnungs- und Schließzeiten und so weiter.

taz: Ein konkretes Beispiel aus ihrem Alltag als Schulleiter?

Lein: An unserer Gesamtschule in Lohbrügge haben wir einen Neubau, der nur sehr langsam vorankommt. Da haben viel zu viele Ämter ihre Finger im Spiel. Ein weiteres Bemühen ist, die Stundentafel flexibel zu handhaben — daß es in einem bestimmten Jahr vielleicht mal nicht so viel Physikunterricht gibt und in einem anderen Jahr mehr. Das sind mitbestimmungspflichtige Dinge, bei denen die Schulaufsicht sich mit Recht zur Zeit die Verantwortung nicht wegnehmen läßt. Andererseits werden nach einem längeren Verfahren solche Wünsche doch genehmigt. Aber das ist kompliziert.

taz: Herr Dr. Behrens, Sie sind Kritiker des Autonomie-Papiers.

Behrens: Was Herr Lein gesagt hat, sind Selbstverständlichkeiten, die uns nicht voneinander unterscheiden. Die äußere Schulverwaltung — die Tatsache also, daß der Schulleiter dem Hausmeister eigentlich gar nichts sagen darf — muß verändert werden. Die Schwierigkeiten, die Herr Lein mit seinem Neubau hat, sind mit Autonomie nicht zu beheben, sondern mit der dringend überfälligen Verwaltungsreform. Es ist unvernünftig, daß wir in derselben Sache mit Baubehörde, Schulbehörde, Bauabteilung der Bezirksämter zu tun haben. Was Herr Lein also genannt hat, hat leider mit dem Papier nichts zu tun.

taz: Wollen Sie den Schulen nicht mehr Autonomie zugestehen?

Behrens: Das finde ich so trickreich an der Diskussion: Der von mir sehr positiv bewertete Begriff „Autonomie“, verbunden mit konkreten Mißständen, die ich auch bemängle, wird für ein viel weitergehendes Modell genutzt: Für den Ausmarsch der Spitze der Schulbehörde aus der politischen Verantwortung. Wir Gewerkschafter sind gebrannte Kinder. Immer wenn Mittel global zugewiesen werden, wird anschließend prozentual gestrichen. Wenn dieses Modell sich so durchsetzt, dann werden Eltern nicht mehr bei Bürgerschaft oder Schulsenatorin anfragen können, „Warum kriegt mein Kind nicht Physik?“, sondern die konkrete Schule, speziell den Schulleiter angehen, wenn es den dann noch gibt. Das Sparen wird mit diesem Papier leichter. Wenn dieses Papier aber sagt, wir wollen ja gar nicht, daß gespart wird, dann sind die Verfasser blauäugig. Daß gespart werden wird, hat uns Henning Voscherau gerade gesagt.

Lein: Herr Behrens, Sie umgehen wahrscheinlich absichtlich die Frage nach der Profilbildung von Schulen. Es besteht, glaube ich, ein Konsens in der Hamburger Schullandschaft: daß Profilbildung sinnvoll und notwendig ist. Und zur Profilierung von Schule bedarf es erstens einer stärkeren Selbststeuerung von Schule — übrigens auch, aber nicht nur, in ökonomischer Hinsicht. Es bedarf einer stärkeren Verantwortlichkeit von Lehrern. Und die wird dadurch gestärkt, daß Kompetenzen an die Schule verlagert werden.

taz: Es geht ja nicht nur um Profil, sondern auch um finanzielle Verantwortung.

Lein: Völlig richtig.

taz: Im fraglichen Papier ist auch die Rede davon, daß sich die einzelne Schule am Markt behaupten muß und Mittel durch Angebote wie Computer- Kurse am Abend einwerben soll.

Lein: Auch heute gibt es schon Schulen, die sich zusätzliche Mittel besorgen. Das Gymnasium Corveystraße möchte sich mit Hilfe einer monatlichen Elternspende von 40 Mark eine Aula zusammensparen. Das Wilhelm-Gymnasium läßt sich die Baukosten für seine Aula von Sponsoren schenken. Für mich ist der Begriff Autonomie deshalb so entscheidend, weil er etwas Ganzheitliches umfaßt. Und — worauf ich Wert lege als Mitglied dieser Arbeitsgruppe — wir wollen ja nicht das Programm für die Zukunft der Hamburger Schullandschaft schreiben. Wir geben vielmehr Anstoß für einen Modellversuch, der wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden soll.

Behrens: Schulpolitische Versuche sind bisher in der Regel mit der Absicht angelegt worden, sie auf Dauer laufen zu lassen. In Hamburg wird Schule durch Versuche verändert. Dieses Papier hat zwei Grundprinzipien, die ich sozialpolitisch gefährlich finde, weil sie das Sozialgefüge in der Stadt zerreißen können. Erstens: Die Profilbildung ist oft sinnvoll, es muß aber ein den Schulen gemeinsamer Anspruch bleiben, auf den sich die Öffentlichkeit verlassen kann. Nehmen wir eine Mittelstufenprüfung oder das Abitur. Wenn die Inhalte des Abiturs nicht eine gewisse Verläßlichkeit haben, werden wir in unserer Gesellschaft ganz andere Auswahl-

1mechanismen bekommen.

Lein: Aber Herr Behrens, wo wird hier vom Abitur geredet?

Behrens: Das ist am Text erkennbar, wenn gesagt wird, es müssen andere Stundentafelvorgaben gemacht werden. Sie wissen, daß selbst die Vorgaben der Kultusministerkonferenz so ungenau sind, daß sie kaum jemand ausfüllen kann.

Lein: Sie wissen doch auch, daß die jetzige Hamburger Schullandschaft unterschiedliche Wege zum Abitur zuläßt. Die Gesamtschule hat bereits heute eine etwas andere Stundentafel als das Gymnasium. Trotzdem ist keiner so mutig zu behaupten, das seien zwei verschiedene Abiture — dafür gäbe es keinen Beleg. Der staatliche Rahmen, der für die Abschlüsse gesetzt wird, und die staatliche Schulaufsicht werden von uns überhaupt nicht angetastet.

Behrens: Sie wird bloß als tatsächlich nicht mehr realisierbar beschrieben. Wenn Sie innerhalb der Schule die Methoden und die Inhalte in hohem Maße freigeben, dann wird das „Endprodukt“ für die Öffentlichkeit nicht mehr verläßlich. Das Zeugnis aus Wilhelmsburg wird weniger wert sein als das aus Wellingsbüttel. Weil sich die Dinge verknüpfen mit dem Marktprinzip. Schulen werden besser werden, wenn sie eine zahlungsfähige Elternschaft haben oder — und das steht wörtlich im Papier drin — wenn sie Wirtschaftssponsoren gewinnen oder Angebote auf dem Markt erreichen. Was das für Rück-

1wirkungen haben wird, macht mir ernsthaft Sorgen. Der Sponsor wird mit seinen 20000 Mark sagen: „Mal unter uns, wenn dieser Lehrer noch lange unterrichtet, der macht so ganz linke (oder ganz rechte) Sachen ...“ Oder: „Mein Sohn wird doch hoffentlich auch ein gutes Abitur machen ...“ Oder: „Sie sollten im Fach Wirtschaft

1auch mal ein bißchen die Nöte der Arbeitgeberseite darstellen.“ Außerdem muß die so geartete Schule einen Wirtschaftsleiter haben. Der wird deutlich sagen: „Bestimmte Lehrer schwächen unsere Marktstellung, dann müssen wir uns wohl von denen trennen.“ „Personalpolitische Autonomie“ steht im Papier. Der wird sagen: „Eine Frau in Teilzeitbeschäftigung ist schwer zu organisieren. Der Vollzeitmann ist doch viel besser.“

Lein: Habe ich eigentlich die Anmerkungen des DL seinerzeit überlesen, oder waren Sie gar nicht da, als zum Beispiel am Gymnasium Ohmoor eine aufwendige Computeranlage von einer Firma gesponsert wurde? Ich denke, das ist längst Realität, daß es Sponsoren gibt. Da hat der DL nie Zeter und Mordio geschrien. Tatsache ist, daß hier ein Horrorszenario an die Wand gemalt wird. Unser Ansatz ist doch zunächst nur: Laßt uns was Vernünftiges probieren.

taz: Ist das denn die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt?

Lein: Ich denke, ja. Wir können doch nicht sagen, weil die Politiker Sparmaßnahmen ankündigen, können wir uns über nichts anderes mehr Gedanken machen, weil man über solch einen Schulversuch Einsparungen durchsetzen könnte. Kann man übrigens nicht. Man kann aber über unvorbereitete und nicht durchdachte Maßnahmen wie einen Globalisierungstitel Einsparungen erreichen, die manche in der Schulbehörde gerne hätten.

1taz: Was heißt Globalisierung?

Lein: Es gibt schon für 1994 Überlegungen, fünf Prozent des Personalhaushaltes der Schule zur freien Verfügung zu stellen; mal flapsig gesagt: die Schule zu autorisieren, daß sie entweder Farben für die Renovierung kauft oder einen Lehrer mehr einstellt. Das sind in den Augen der Arbeitsgruppe aber gefährliche Tendenzen, die viel zu schnell und unvorbereitet kommen. Überdies sind wir in der AG der Meinung, daß die Versuchsschulen mit einem Zuwachs an finanzieller Verantwortung auch Fachpersonal bekommen müssen, das derzeit in der Schulbehörde zentral arbeitet. Ich bin von Haus aus Pädagoge und kein Rechnungsführer, hab jetzt schon Schwierigkeiten mit meiner Abrechnung an der Schule.

Behrens: Ich habe am Anfang gesagt, die Eröffnung über den Begriff Autonomie ist ein bißchen trickreich, weil wir alle Autonomie schätzen. Es gibt auch eine ganze Menge Punkte, wo wir uns einig sind: Wir brauchen mehr Verwaltungskapazität an der Schule, wir brauchen das Girokonto für die Lernmittel, damit nicht alles über diese teure Beschaffungsstelle gehen muß. Die Schulsekretärinnen, die effektiv so etwas wie Inspektorinnen sind, werden ungewöhnlich schlecht bezahlt. Die Schulleiter werden schlecht ausgebildet. Wenn sich jetzt Herr Lein gegen den Globalisierungstitel ausspricht, so bin ich betrübt; aber ich finde ihn im Autonomie-Papier auf der Seite 8: „Der Rahmen wird durch eine globale Mittelzuwendung gezogen.“

1Lein: Und wenn Sie dann auch Seite 9 lesen, werden Sie feststellen, daß wir ganz ausdrücklich einen Schulversuch entwickeln wollen, der zunächst mal dieses erprobbar und kalkulierbar macht.

Behrens: Ein anderer Punkt beunruhigt mich. Was Schule ist, wird eher ungenau beschrieben. An einer Stelle präzisiert: Schule sei vor allem das Kollegium; das können oft 60 bis 120 Personen sein. Die Mitwirkungsformen anderer Gruppierungen sind nicht so deutlich genannt.

Lein: In dem Papier steht: Insbesondere die Schulkonferenz und die Lehrerkonferenz werden gestärkt und aufgewertet. Es ist ausdrücklicher Wunsch der Arbeitsgruppe, der Schule eine Verfassung zu geben, in der die Schulkonferenz ein Gewicht bekommt, das sie zur Zeit nicht mehr hat, weil ihr eins der vornehmsten Rechte, nämlich die Wahl des Schulleiters, genommen worden ist.

taz: Warum sollen die Schulen selber Geld verdienen?

Behrens: Und wie?

Lein: Ich will ein Beispiel nennen: An meiner Schule wird nachmittags von Studenten Musikunterricht gegeben, für den Eltern auch bezahlen. Wenn ich dies beim Bezirksamt anmelde, müßte Raummiete an den Bezirk gezahlt werden, die aber nicht an die Schule zurückfließt. Oder ein anderes Beispiel: Was spricht dagegen, daß Familien sagen, wir würden gerne in der Schule feiern — und ein bißchen was kosten kann es auch?

Behrens: Was Sie hier aufzählen

1sind Peanuts. Das ist nicht das große Volumen, das angedeutet wird, wenn ich hier auf Seite 8 lese, daß Bildungs- und Dienstleistungsangebote am Markt anzubieten sind, zum Beispiel durch Computerkurse für Eltern, Nachhilfekurse, Firmenkontrakte und vieles andere mehr. Nicht nur da ist das Papier wolkig, unklar, realitätsfern. Ich als Lehrer muß mich doch fragen, wem gebe ich Französisch-Unterricht? Meinen Schülern oder den Eltern gegen Geld, das in die Schulkasse wandert? Wenn Sie den Markt in die Schulwirklichkeit einführen, dann machen Sie die Marktmächtigen, die Leute mit mehr Geld, mächtiger.

Lein: Wo kommt Ihre Ängstlichkeit eigentlich her, etwas auszuprobieren? Lassen Sie uns doch mal gemeinsam über die Vorschläge reden. Wir wollen Schulen finden, die über so etwas nachdenken. Wenn es mir gefährlich wird, dann können wir doch über die einzelnen gefährlichen Punkte beraten.

taz: Sie teilen also die Befürchtungen von Herrn Behrens?

Lein: Befürchtungen nehme ich ernst. Ich habe eine Reihe von Diskussionen im Schulleiterkreis gehabt und mich gefreut über die Unzahl von kritischen Anmerkungen. Und wenn dieses Stichwort „Handeln am Markt“ auf so viel Widerspruch stößt, weil Menschen es vielleicht anders verstehen, als wir ursprünglich dachten, dann müssen wir sagen: Ja gut, warum sollen wir einen Begriff benutzen, der nur auf Widerstand stößt.

Das Gespräch führte Kaija Kutter