Workaholic auf Reisen

Dizzy Gillespie ist tot  ■ Von Christian Broecking

1992 war noch einmal ein großes Jahr für ihn. Nicht nur weil er im Herbst 75 wurde. Im Sommer spielte er auch ein einmonatiges Engagement im legendären New Yorker Club Blue Note – das längste seines Lebens auf ein und derselben Bühne. Dizzy Gillespie war ein Workaholic, schon bevor das Wort dafür erfunden wurde. Rastlos arbeitete er weltweit an bis zu 300 Tagen pro Jahr auf Jazzfestivals, in verrauchten Jazzclubs und auf den etablierten Konzertbühnen.

Nach dem Tode von Miles Davis 1991, dem er in jungen Jahren gezeigt haben will, wie sich ein Akkord auf dem Klavier anhört (und daß sich Musik auch denken läßt), gab er das Rauchen auf. Die Havanna Cigarre war seit langem zu seinem Markenzeichen geworden – ganz im Einklang mit dem, was er musikalisch in den modernen Jazz einbrachte: die Orientierung auf afrokubanische Rhythmik. „Cubana Be, Cubana Bop“ war eine dieser wegweisenden Big-Band- Kompositionen, „A Night in Tunisia“ oder seine den Rhythmus wechselnde Interpretation von Theolonious Monks „Round' Midnight“ wurden zu sogenannten Marksteinen der Jazzgeschichte. Als Congaspieler arbeitete der Multiinstrumentalist Gillespie von Anbeginn mit kubanischen Musikern – als immer wiederkehrender Gast der Salsa Meets Jazz-Serie im New Yorker Village Gate bis zum Schluß – eine Arbeit mit Rhythmen, in denen sich der übliche 4/4- Takt-Musiker leicht verlieren konnte, der sich an der Baßtrommel oder am eigenen Fußwippen zu orientieren gewohnt war.

Gillespie gilt als Erfinder des Bebop – sein Name wurde zum Inbegriff dieses schillernden Labels. Von dem blieb, nachdem es die Mühlen ideologisierter Jazzgeschichtsschreibung etwas beschädigt überstanden hatte, eine Vokaltechnik übrig: Der Scatsänger Dizzy trug seinen Mitmusikern neue, schwierige musikalische Phrasen mit den Silben Be und Bop vor. Übrig blieb auch die Einsicht, daß sich neue, radikale Musikentwicklungen nicht auf revolutionäre Posen reduzieren lassen – zumindest in den Augen des Erfinders Gillespie. Denn dieser glaubte zeitlebens an die Evolution – der Religionen und der Musik. Als erster offizieller musikalischer Botschafter des State Departments oder als unabhängiger Kandidat bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen 1964. In den letzten zwanzig Jahren war er als Anhänger der Bahai-Religion zur politischen Abstinenz verpflichtet. Er glaubte seiner Religiosität viel zu verdanken. Vielleicht weil er die Drogenexzesse der Bebop-Väter und -Söhne überlebte; weil die über 50jährige Ehe mit seiner Frau Lorraine in die Geschichte des amerikanischen Showbiz eingegangen ist; vielleicht auch weil er einer der ganz wenigen Jazzmusiker war, die es auch finanziell geschafft haben.

„Gillespie is the name – and Music is my game!“, so mochte der Entertainer Dizzy sich immer gerne selbst vorstellen. Viele Kritiker haben seine Witzeleien und Wortspiele, die er während seiner Clubauftritte oftmals auf ungewohnte Längen zwischen den Stücken auszudehnen wußte, nicht gebilligt. War der musikalische Revolutionär von einst doch nur ein verkleideter Clown gewesen? Der verklärte Blick auf den Bebop als Kunstmusik konnte sich an den profanen Inszenierungen Gillespies nur allzu verzerrt spiegeln. Seine Kommunikation mit Musikern und Publikum hob nicht ab auf die Etikette(n) der etablierten Kunst. Und war so eben auch nicht handlebar. Er konnte zum Bebop tanzen, er konnte entertainen, und er konnte spielen. In dem Thriller „The Winter in Lisbon“ (1990) spielte er einen Expatriate, einen amerikanischen Jazzmusiker in Europa. In einer Szene sitzt er am Klavier und erzählt davon, warum er Amerika verließ, von Rassismus und Drogen, und auch davon, daß die Leute nichts von dem Druck verstanden haben, der seinen Weggefährten Charlie Parker und auch Billie Holiday gekillt hat; davon, daß er mehr tote Freunde als lebende habe, und daß so viele afroamerikanische Musiker ihr Heimatland verlassen mußten, um zu überleben. Gillespie brauchte dafür kein Script. Er brauchte nur vom Leben zu erzählen. Vom Leben eines Jazzmusikers. Vom Leben einer Generation, die er überlebt hatte. Heute sei alles anders, meinte er, aber die Musik bleibe ständig auf Reisen, um sich zu erneuern. Am 6.Januar ist Dizzy Gillespie in Englewood, New Jersey, an Krebs gestorben.