Lieder eines leidenden Wanderers

■ Franz Schuberts Winterreise in einer Variation von Michael Altmann im Podewil

Michael Altmann und Die Winterreise – soll man davor warnen? Zumindest vielleicht ein Mißverständnis ausräumen: die romantische Musik Franz Schuberts und der nicht minder romantische Text Wilhelm Müllers sind zwar die berühmte Vorlage für den musikalisch-szenischen Monolog, der zur Zeit im Podewil auf dem Programm steht, doch alle Freunde der hochartifiziellen Sangeskunst werden hier bitter enttäuscht werden. Michael Altmann ist nun mal kein in Konzertsälen brillierender Fischer-Dieskau, sondern einer der letzten echten Vagabunden, die tatsächlich noch durch unser Land wandern und – wo immer sie stranden – mit ihrer Schauspielkunst von einer großen Reise erzählen können. Von einer, die ihr Lebensweg ist – ob mit den Worten von Becketts Letztem Band (das Altmann auf dem Sankt Gotthard aufführte) oder mit der Musik Schuberts bleibt dabei nur eine Frage der Gelegenheit.

Diese Wanderbeschreibungen wundersamer Begebenheiten und rastloser Neugierde atmen den Duft heruntergekommener Kaschemmen, in denen zwischen Bierdunst, Zigarettenschwade und müder Klatschsucht die Melancholie körperhaft wird und das Schicksal sich längst unter den Tisch gesoffen hat. Als Franz Schubert, der solche Kneipen liebte und in seiner grenzenlosen Einsamkeit auch brauchte, in seinem Todesjahr 1827 auf die Gedichte der Winterreise stieß, verdichteten sich seine immer notengeschwängerten Gedanken noch ein letztesmal zu einer todessüchtigen Wehklage, die der Dreißigjährige als sein Testament hinterließ.

Leider sind diese Lieder eines unter Liebesentzug leidenden Wanderers allzu bekanntes Liedgut geworden: denn der aufs Kulinarische gerichtete Genuß der schönen Stellen und Stimmen neigt dazu, das existentielle Grundgefühl dahinter völlig zu vergessen. Davor ist für diesmal die Persönlichkeit eines Schauspielers getreten, dessen Gesang nicht selten an die alte harmonietrotzende Röhre eines Tom Waits erinnert und dessen Mimik der blut- und kotverschmierten Bodenständigkeit mit einer zügellosen Zärtlichkeit verbunden scheint, die so vielleicht nur bei Charles Bukowski aufgespürt werden kann. Altmann atmet den Melodien Schuberts einen verrauchten und verruchten Rhythmus ein und rotzt, hustet und säuft sich durch das Dunkel der besungenen Wälder und durch die Eiseskälte der Jahreszeit, daß es nur so fröstelt. Und doch – wie könnte es bei ihm anders sein – der Clown behält die Oberhand: immer schmitzt es in den Zügen dieses von Lebenserfahrung durchfurchten Gesichts, und immer wieder macht der Körper, dessen gedrungene Gestalt sich der Erdoberfläche angepaßt zu haben scheint, kleine Hüpfer aus reiner,spontaner Lebenslust. Wie ein kleiner Junge sitzt er noch da, wenn die Lieder, die er singt, längst das Leben hinter sich gelassen haben und staunt mit verdutztem Gesicht über das Inferno, das die Musikanten entfachen.

Wie oft ist versucht worden, diesem Stück Musik durch kleine Eigenheiten der Interpretation das Besondere zurückzugeben, und wie nachdrücklich ist es für diesmal gelungen, eine ganz andere Winterreise zu zeigen, ein Stück Lebensmelancholie und Endzeitstimmung, das – gerade auch mit seiner ganz diesseitigen Albernheit – einem Samuel Beckett gefallen hätte. Dies zur Warnung für alle Fans, die glaubten, die 24 kurzen Lieder schon vor diesem Abend gekannt zu haben. baal

Nur noch am heute, 12. und 13.1, 20 Uhr im Podewil