Die Sterne Madagaskars

Die rote Insel ist für die Tourismusindustrie ein weißer Fleck auf der Landkarte  ■ Von Plutonia Plarre

Sorgfältig in einer Reihe sind die acht bunten Zettelhäufchen nebeneinander aufgeschichtet. Jeder Stapel ist mit einer großen Muschel beschwert, damit sie der Wind nicht wegbläst. In der direkt am Meer gelegenen Holzhütte des 500 Seelen zählenden Fischerdorfes Ifaty im wüstenhaften Süden von Madagaskar finden heute erstmals wieder freie Wahlen statt.

Die Tage des Staatspräsidenten Didier Ratsiraka, der seit 17 Jahren regiert – zunächst mit einem an den madagassischen Dorfkollektiv-Traditionen orientierten „sozialistischen System der Staats- und Wirtschaftslenkung“ –, sind gezählt. Madagaskar gehört heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Der Verfall der Wirtschaft zwang Ratsiraka in den 80er Jahren zum Umschwenken auf einen Liberalisierungskurs. Fortan gewährte der Internationale Währungsfonds zwar Kredite, diktierte aber auch die Streichung von Subventionen. Staatliche Mißwirtschaft, Umweltzerstörung, Vetternwirtschaft, Korruption und der Verfall der Infrastruktur haben die 1960 von den Franzosen in die Unabhängigkeit entlassene Insel an den Rand des Ruins gebracht.

Mit langanhaltenden Streiks zwangen die aufbegehrenden Massen Ratsiraka 1991 schließlich, eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung und Neuwahlen zuzulassen. Aussichtsreichster von insgesamt acht Kandidaten ist der Chirurgie-Professor Albert Zafy, der seit den Streiks Premierminister der oppositionellen Übergangsregierung ist. Aber auch Ratsiraka stellt sich wieder zur Wahl. Seine Anhänger sind ohnehin nicht gewillt, einfach das Feld zu räumen. Wenige Wochen vor den Wahlen sprengten sie eine Eisenbahnbrücke in die Luft, wodurch es in der Hauptstadt Antananarivo, kurz Tana genannt, zu massiven Benzin-Engpässen kam. Aus Toliary und Antsiranana, den größten Städten des Südens und Nordens, wurden Unruhen und einige Tote gemeldet.

Obwohl es noch früh am Tage ist, hat schon die Hälfte des Fischerdorfes Ifaty gewählt. Barfuß oder mit Gummilatschen, den Strohhut tief ins Gesicht gezogen, das Leinentuch um die Hüften geknotet, schlendern die dunkelhäutigen Männer und Frauen in der Holzhütte hinter einen Vorhang, stecken dort den Zettel ihres Wunschkandidaten in einen Briefumschlag und lassen die übrigen sieben in den Sand fallen. Danach wandert der Umschlag in eine mit zwei Schlössern gesicherte Holzkiste. Zum Schluß wird der Daumen jedes Wählers in rote Tinte getunkt.

Die Madagassen haben von der wirtschaftlichen Misere die Nase gestrichen voll. Fünfzig Prozent der zwölf Millionen Einwohner der dünnbesiedelten Insel sind unterernährt. Die hohe Geburtenrate, die sinkenden Erträge der Landwirtschaft, der Verfall der internationalen Rohstoffpreise und ein dramatischer Rückgang der Hauptexportgüter Sisal, Vanille, Kaffee und Gewürze stellen die Insel vor unlösbare Probleme. Immer mehr Menschen – 75 Prozent leben auf dem Land – wandern in die Städte ab, wo ihnen nichts anderes bleibt, als die Müllkippen zu durchwühlen. 55 Prozent der Madagassen leben vom Warentausch ohne Bargeld. Zur kleinen, reichen Elite gehören vor allem die Einwohner indischer, chinesischer und europäischer Abstammung, denn die Insel ist ein Schmelztiegel vieler Völker.

Im Laufe der letzten tausend Jahre waren zunächst Araber und Pakistani, gefolgt von Indonesiern, Polynesiern und Kontinentalafrikanern mit ihren Booten gelandet. Gesicherte Erkenntnisse, ob es einmal eine Urbevölkerung gab, existieren nicht. Vor 500 Jahren wurde das Land von den Europäern „entdeckt“. Gegen die Unterwerfung hatten die Madagassen bis zum Schluß heftigen Widerstand geleistet. Französisch ist zweite Amtssprache. Erste Staatssprache ist Malagasy (gesprochen: Malgasch), das zur polynesischen Sprachfamilie gehört. Die vielen ethnischen Einflüsse und die überwältigende Freundlichkeit der nahezu konfliktfrei zusammenlebenden Inselbewohner machen den großen Charme Madagaskars aus. Die 18 Volksstämme haben viele eigene fady's (Vorschriften und Tabus), glauben aber fast alle an die Macht der Vorfahren und praktizieren einen ausgeprägten Totenkult. Die Entscheidungen in den Dörfern werden kollektiv gefällt. Im Vordergrund steht nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft.

Die Strandhotels im Fischerdorf Ifaty sind am heutigen Wahltag wie leergefegt. „Die Touristen bleiben weg, weil sie Angst vor dem Ausgang der Wahlen haben“, erzählt der Chef des Hotel Dunes. Die Flaute trifft das Land schwer, denn der Tourismus ist Madagaskars drittgrößte Deviseneinnahmequelle, obwohl die Besucherzahlen im Vergleich zu anderen exotischen Reisezielen sehr spärlich sind. Im besten Tourismusjahr 1990 verirrten sich von weltweit 400 Millionen Reisenden ganze 52.000 nach Madagaskar. Das ebenfalls an den indischen Ozean grenzende Kenia (1990 eine Million Touristen), die Seychellen (120.000) und Mauritius (230.000) haben mehr Anziehungskraft. Im Streikjahr 1991 wurden nur noch 33.000 Madagaskar-Besucher gezählt. Doch die unsichere politische Lage ist nicht der einzige Grund, warum nur so wenige Touristen kommen. Die rote Insel fast am anderen Ende der Welt ist ein weißer Fleck auf der Landkarte, nur verbunden mit dem alten Seemannslied „Wir lagen vor Madagaskar“ und der Assoziation von Pfeffer und Vanille. Allein die Naturliebhaber wissen: Madagaskar ist ein Juwel.

Vor mehr als 160 Millionen Jahren vom afrikanischen Kontinent abgetrennt, entwickelte sich auf der ursprünglich vollständig mit Wald und Baumsavanne bedeckten 1.600 Kilometer langen und bis zu 600 Kilometer breiten Insel – mit 590.000 Quadratkilometern die viertgrößte der Erde – eine völlig eigenständige Fauna und Flora. Abgesehen von den bei der Besiedlung eingeführten Haustieren, leben hier nur ganz bestimmte Säugetierarten (Endemiten), die – außer auf den Nachbarinseln – sonst nirgendwo zu finden sind: Die possierlichen Lemuren (Halbaffen), auch „Geister der Vorfahren“ genannt, kommen hier in zwei Dutzend Arten vor, vom 50 Gramm schweren Maus-Maki bis zum 80 Zentimeter großen Indri Indri mit dem Pandabärengesicht. 32 Tanrek-Arten (Borstenigel), mit spitzer Nase und gestreiftem Fell, hat die Insel zu bieten und 43 Chamäleonspezies, von fingergroß bis 40 Zentimeter lang. Außerdem unzählige Lurch-, Reptilien-, Vogel- und Insektenarten.

Immens ist auch die Zahl der Pflanzenarten: Auf Madagaskar gedeihen mehr als 1.200 Orchideenspezies, darunter die aus Mexiko eingeführte Vanilla planifolia, aus deren getrockneten braunen Schoten die Vanille gewonnen wird. Immer wieder werden in den zum Teil schwer zugänglichen Naturschutzgebieten in unterschiedlichen klimatischen Regionen und Vegetationszonen – Regenwald, Bergnebelwald, trockener Laubwald, Dornenwald – bisher unbekannte Tierarten und Pflanzen entdeckt; auch zum großen Nutzen für die Heilpraxis und Pharmaindustrie. Das madagassische Immergrün Catharanthus roseus liefert zum Beispiel den Grundstoff Vincristin für ein Anti-Krebs-Medikament, durch das heute drei Viertel aller leukämiekranken Kinder überleben. Die arme Insel finanziell am Gewinn zu beteiligen halten die reichen Industriestaaten des Nordens allerdings nicht für nötig.

Doch um das Naturparadies ist es schlimm bestellt: Madagaskar geht buchstäblich in Flammen auf. Im Kampf gegen die wachsende Armut brennen die Einwohner den Wald nieder, um neue Anbauflächen für Reis, Maniok und Weideflächen für die Zeburinder zu erhalten oder um die Holzkohle an die Städter zu verkaufen: mehr als 90 Prozent der Menschen decken ihren Energiebedarf mit Holz. Weite Teile der Insel, die aus der Luft wie eine Mondlandschaft aussieht, sind bereits Einöde. Durch Erosion entstandene ziegelrote Risse durchziehen die kahlrasierten Berge und Hügel wie tiefe Wunden.

Sämtliche Aufklärungs- und Strafkampagnen zeigten bei der Bevölkerung bislang keine Wirkung: Wer ums nackte Überleben kämpft, schert sich nicht um den Erhalt der Natur. Weltbank, Unesco, Deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau und andere Organisationen haben zusammen mit der madagassischen Regierung einen Umwelt-Aktionsplan entworfen. Die in Aussicht gestellten hundert Millionen Mark sollen unter anderem für weitere Naturschutzgebiete sowie Schutzpflanzungen gegen die Erosion ausgegeben werden. Zwar ist die Aktion nur ein Tropfen auf den heißen Stein, könnte aber zur Belebung des Tourismus beitragen. Denn in der einzigartigen Flora und Fauna der Insel liegt ein noch weitgehend ungenutztes, devisenbringendes Potential. Darum will die Übergangsregierung nun auch verstärkt den Natur- und Entdeckungstourismus fördern.

Doch die Altlasten machen den Aufschwung schwer. Schuld daran ist vor allem die marode Infrastruktur. Aus Angst davor, daß der Tourismus „ein Infiltrationsweg von antiprogressiven subversiven Elementen“ werden könnte, hatte das „sozialistische“ Ratsiraka-Regime in den 70er Jahren kaum noch Individualtouristen und westliche Wissenschaftler ins Land gelassen. Mitte der 80er Jahre öffnete sich die Insel zwar wieder dem internationalen Tourismus, schaffte es aber bis heute nicht, an die Besucherzahlen von vor 1972 anzuknüpfen. Kaputte Straßen, oftmals nur Sandpisten, die in der Regenzeit unpassierbar werden, klapprige Busse und Taxis, die mit Menschen, Hühnern und Gepäck überladen sind, machen die Reise durch Madagaskar zum Abenteuer.

Auch auf die staatliche Fluggesellschaft Air Madagaskar, zum Weiterkommen in entlegene Landesteile unverzichtbar, ist nicht immer Verlaß. Trotz eines „O.K.“ im Ticket kann es schon mal passieren, daß man nicht mitkommt oder der Flug einfach ausfällt, auch wenn sich die Gesellschaft nach besten Kräften bemüht, die ausländischen Gäste zufriedenzustellen. Einfache, saubere Unterkünfte und gutes, preiswertes Essen gibt es in fast jedem größeren Ort, aber First-Class-Hotels, die sich am internationalen Standard messen können, sind rar. Daß so manches madagassische Fünf-Sterne-Hotel kaum einem Drei-Sterne-Quartier auf Mauritius entspricht, will der Tourismusminister der Übergangsregierung, Rajaobelina Mamy, nun ändern: „Es dürfen keine Sterne Madagaskars mehr sein.“ Mit einer Anhebung des Komforts hofft er, künftig auch weniger risikobereite Gäste in das Land, wo der Pfeffer wächst, zu locken.

Aber die besten Vorhaben nützen nichts, wenn die Reiseveranstalter nicht mitspielen: Etliche Agenturen in Frankreich, das die meisten Besucher in der ehemaligen Kolonie stellt, reduzierten ihr Madagaskar-Programm rund um die Wahlen kurzerhand auf Null. Dabei erwies sich die Panik vor Unruhen als völlig ungerechtfertigt: Die Madagassen haben am 25. November 1992 absolut friedlich gewählt. Anderthalb Wochen später – so lange dauert es auf der roten Insel nun mal, bis auch die letzten Urnen aus dem Busch zur Auszählung nach Tana geschafft sind –, stand das vorläufige Endergebnis fest: 45,94 Prozent für den Oppositionellen Zafy und 28,59 Prozent für Ratsiraka. Da aber einer die absolute Mehrheit erlangen muß, findet voraussichtlich noch im Januar eine Stichwahl zwischen den beiden statt. In der Holzhütte von Ifaty liegen die Muscheln für die zwei Zettelhäufchen schon bereit.