Geschichte als Schnitzeljagd

■ Ein Rückblick auf die algerischen Verhältnisse aus der Legionärs- und Conquistadoren-Perspektive

Das Buch besteht aus drei Teilen. Die zwischen 1953 und 1987 geschriebenen und als „Maghrebinisches Tagebuch“ zusammengefaßten Beiträge werden von Kommentaren zur Aktualität eingerahmt. Wie in einer musikalischen Ouvertüre klingen in der Eröffnung des Tagebuches alle Motive und zugleich die Ursachen des Mißlingens der Komposition an.

Im Herbst 1953 meditiert der Verfasser vor den Ruinen der alten nordafrikanischen römischen Siedlerstadt Timgad, vergleicht die raffinierte römische Körper- und Geselligkeitspflege mit den schmuddeligen Gestalten der Berber. Die Ruinen Timgads seien ein beredtes Symbol dafür, daß sich mit den Römern die Geschichte schlechthin aus Nordafrika zurückgezogen habe, um erst mit den Franzosen im 19. Jahrhundert wiederzukehren, und mit deren Abzug wieder zu verschwinden. Das ist die Legionärs- und Siedlerperspektive, römisch wie französisch. Zu dieser LePerspektive gehört auch die fixe Idee, Geschichte verwirkliche sich vermittels des bravourösen Handelns der schillernden Persönlichkeit, deren titanische Willensanstrengung stets von Bürokraten, Schulmeistern und anderen von des Gedankens Blässe angekränkelten Intellektuellen zu knebeln versucht wird. Wenn der Autor sich darauf beschränkt, konkrete, unmittelbare Erlebnisse aus seinen Begegnungen mit Individuen zu beschreiben, ist dieses Tagebuch durchaus angenehm zu lesen. Nur beschränkt er sich nicht sehr oft darauf und will auch Geschichte deuten, mit unerfreulichen Folgen für die historische Wahrheit. Über Abbane Ramdane, den überragenden politischen und militärischen Gestalter der Nationalen Befreiungsfront, erfährt man nur, daß er „eine unversöhnliche und zwielichtige“ Figur gewesen sei, aus der Kabylei stamme (was stimmt) und dort den Aufstand geleitet hatte (was überhaupt nicht stimmt), von seinen Rivalen umgebracht wurde (was stimmt), nachdem sie ihn an die Front gelockt hatten (was so nicht stimmt). Die Wirren unmittelbar nach der Unabhängigkeit werden nach dem gleichen simplifizierten Muster erklärt: hier der „farblose Apotheker “ (sic) Ben Chedda und seine Salonrevoluzzer, dort der brillante Ben Bella und die disziplinierten Soldaten der Grenzarmee. Die Wahrheit paßt nun gar nicht in des Verfassers Weltanschauung, denn Ben Bella und die Grenzarmee setzten die in diesem Buch so geschmähte und für alle späteren Übel verantwortlich gehaltene Einheitspartei durch, der blasse Apotheker und seine Regierung vertraten eine größere Meinungsvielfalt und wurden von denjenigen Partisanen unterstützt, die im Inland gegen die überwältigende militärische Übermacht der Franzosen die Knochen hingehalten hatten. Die Gründung eines Politbüros war dann auch das auslösende Ereignis der besagten Wirren. In Scholl-Latours mehrseitiger Darstellung findet sich darauf nicht der geringste Hinweis.

Mit diesem zwanghaften Wahrnehmumgsmuster hängt auch die beharrlich wiederholte Behauptung zusammen, die O.S. („Organisation speciale“) hätte Allerheiligen 1954 die algerische Revolution ausgelöst. Diese Geheimorganisation war 1950 schon zerschlagen. Zwar waren ehemalige O.S.- Mitglieder die treibende Kraft des Aufstandes, aber von einer Identität der Personen auf eine Identität der Organisation zu schließen, verwischt die aus der Sicht wie Geschichte der Algerier so wichtige Zäsur gegenüber dem voraufgegangenen nationalen Widerstand.

Hätte dieses „Maghrebinische Tagebuch“ mehrere Korrekturen dringend gebraucht, so wäre es schier ein Herkuleswerk, sämtliche größeren und kleineren Fehler in den beiden anderen, von der jüngsten Aktualität berichtenden Teilen auszumerzen. Der Gipfel ist wohl das Wahlergebnis vom 26. Dezember 1991. Das amtliche Wahlergebnis gab abgerundet der FIS 47%, der FLN 23% und der FFS 7,5%. Bei Scholl-Latour werden daraus über 60%, 12% und 16%. Wie konnten diese Zahlen zustande kommen? Eine mögliche Erklärung: In Le Monde vom 28.12.1991 wird das Ergebnis der ersten 62 ausgezählten Stimmen in einem Wahllokal erwähnt; die auf die drei genannten Parteien entfallenden Anteile entsprechen ziemlich genau Scholl-Latours Prozentzahlen. Hat er die ersten 62 ausgezählten Stimmen in der Grundschule von Um Habiba in Bab hochgerechnet? Wie auch immer, hochgerechnet ist allemal der Anspruch des Buches, Einsicht in die Entwicklung der jüngsten algerischen Geschichte zu gewähren. Die Analyse des Fundamentalismus, wenn es denn eine sein soll, ist schmalspurig, von den Fehlern auch hier zu schweigen. Fazit: Die Veröffentlichung verdankt sich dem Wissen um das gewinnbringende Stillen des Heißhungers auf Nachrichten aus Brandherden; Erkenntnis über den Brandherd Algerien verdankt man dem Buch wenig. Robert Detobel

Peter Scholl-Latour “Aufruhr in der Kasbah, Krisenherd Algerien“. Stuttgart 1992