■ Auch nach der Deportation von 415 Palästinensern stellt sich in Israel die Frage nach dem historischen Kompromiß
: Die alte Wunde hat sich geöffnet

Mit der Deportation von 415 mutmaßlich islamistischen Palästinensern wollte Jitzhak Rabin ein Exempel statuieren, das zeigen sollte, daß die Ermordung eines israelischen Soldaten hart bestraft wird. Aber er hat ein Beispiel für das Gegenteil geliefert. Die Weigerung Libanons, die Ausgewiesenen aufzunehmen, hat innerhalb von wenigen Stunden die Kulissen für ein Theater aufgestellt, in dem nun die ursprüngliche Tragödie der Palästinenser dargeboten wird.

Aus ihrem Land verjagt, finden sich die Ausgewiesenen quasi rittlings auf der Grenze wieder, von den einen gestoßen, von den andern blockiert, eingeklemmt in ein „Niemandsland“, das emblematisch ihre Lage in der Welt zum Ausdruck bringt. Wenn man sich ein Heldenepos hätte ausdenken müssen, um in wenigen Bildern das palästinensische Problem darzustellen, hätte man nichts besseres gefunden. Einheit der Zeit, Einheit des Ortes, nichts fehlt. Mit der Unterbrechung der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten war die Spannung garantiert, der Countdown angelaufen (wie lange werden sie es noch durchhalten?), und um der ganzen Geschichte noch die richtige Würze zu geben, kamen noch Schnee und Kälte (es ist Weihnachten) hinzu. Die Fernsehstationen haben sich sofort auf dieses neue Bethlehem gestürzt. Es ist kurz, klar und fotogen: die weltweite Verbreitung dieser unterhaltsamen Geschichte hat sich von selbst ergeben. Wenn Jitzhak Rabin die Folgen seiner Entscheidung vorher hätte abmessen können, hätte er sie gewiß nicht getroffen.

Aber was lehrt uns dieses Stück? Bevor das palästinensische Problem ein Problem der Besetzung war, war es ein Problem der Vertreibung. Die Israelis haben immer behauptet, daß die Hunderttausende von Palästinensern, die 1948 aus ihrem Land geflohen sind, freiwillig abgereist seien, ermutigt von den arabischen Nachbarstaaten, die darauf brannten, sich mit dem israelischen Staat, der gerade seine Unabhängigkeit ausgerufen hatte, zu schlagen. Die Palästinenser haben diese Version immer scharf zurückgewiesen. Wir wollen nicht ins Detail gehen. Stellen wir einfach fest: Diejenigen, die 1948 vertrieben wurden, fanden sich in den Flüchtlingslagern (im Libanon, in Syrien, Jordanien, in der Westbank und im Gazastreifen) wieder, und sie haben immer auf ihrem „Recht auf Heimkehr“ bestanden. Bis 1967 bestand die palästinensische Frage einzig und allein darin.

Mit dem Krieg von 1967 gewann die israelische Armee die Kontrolle über die Westbank, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem, zu dem Problem „Vertreibung“ kam nun auch noch das Problem „Besetzung“. Gleichzeitig übernahmen Jassir Arafat und seine Gruppe (Al Fatah) die Führung der PLO. Zwanzig Jahre später entwickelte sich die Intifada nach dem Modell des „Algerien-Krieges“ (ein Aufstand gegen die Besetzung). Der PLO war nun daran gelegen, das Problem der „Rückkehr“ zu einem nachrangigen zu machen und insistierte auf der Rückgabe der besetzten Territorien, um dort einen palästinensischen Staat zu errichten. Die Intifada hat sie auf diesem Weg bestärkt und sogar zu einer Beschleunigung der Bewegung geführt.

Realpolitik verpflichtet. Mit anderen Worten: Nachdem Jassir Arafat und seine Genossen zwei Jahrzehnte lang die Kräfteverhältnisse abgewogen hatten, wagten sie nun feierlich zu verkünden, daß das Beste, was sie erwarten konnten, ein historischer Kompromiß sei, der es einem kleinen Palästina erlauben würden, mit Israel friedlich zu koexistieren.

Diese Entscheidung kommt zwar den Einwohnern des Gazastreifens und der Westbank entgegen (die durch ihre Notabeln, vor allem Feisal Husseini repräsentiert werden), lassen aber das Schicksal der Flüchtlinge von 1948 völlig offen. In ihrer Mehrheit unterstützen diese zwar weiterhin die PLO, die sie implizit vor das Dilemma „das oder nichts“ gestellt hat. Aber diese Linie wird noch in irgendetwas Handgreifliches münden müssen. Darum genau geht es bei den Friedensverhandlungen, die in Madrid begonnen haben.

Inzwischen ist eine neue Generation auf die Bühne getreten und mit ihr die Islamisten von Hamas. Sie halten von Friedensverhandlungen gar nichts, ihnen geht es allein um einen offenen Krieg bis zum Verschwinden des Staates Israel. Die eigentliche Frage besteht nun also darin, ob es der Generation der „Alten“, die das Geschehen seit über zwanzig Jahren prägen (Arafat einerseits, Rabin und Peres andererseits), gelingt, diesen historischen Kompromiß zu konkretisieren. Wenn ja, darf man hoffen, daß der (gezwungenermaßen unvollkommene) Pakt eine schon allzu lang explosive Situation stabilisiert und (vielleicht) in einen Frieden mündet. Wenn hingegen die heutige Linie der PLO schlicht zu einer Niederlage führt, wird die alte Generation jegliches Ansehen verlieren und sich der Weg für die nächste Generation öffnen, für Hamas also. Dann stehen weitere lange Jahre des Schreckens bevor. In einem gewissen Sinn könnten Männer wie Jitzhak Schamir und Ariel Scharon einen solchen Ausgang vorziehen, weil es ihnen dann ein leichtes wäre, die Islamisten als rachedurstige Wilde zu präsentieren, mit denen man nicht verhandeln kann.

In diesem Zusammenhang erst erhellt sich die Bedeutung der Affäre der Ausgewiesenen in ihrem vollen Umfang. Bei allen Palästinensern hat sie die alte Wunde aufgerissen. Die Männer von Hamas sind als Helden und Märtyrer aufgetaucht, was die Führung der PLO zwang, ihre Teilnahme an den Friedensverhandlungen zu suspendieren. Auf der Gegenseite ist es für Jitzhak Rabin sehr schwer geworden, zum Rückzug zu blasen. Er ginge das Risiko ein, den Islamisten zu einem noch offensichtlicheren Sieg zu verhelfen. So kann er nun also weder voran noch zurück.

Aber der palästinensisch-israelische Konflikt hat andere und viel schwerwiegendere Peripetien gekannt. Die israelische Regierung müßte nur einen halben Rückzug antreten (zum Beispiel es dem Internationalen Roten Kreuz erlauben, ins Niemandsland zu gelangen), um die Spannung zu entschärfen und die Aufmerksamkeit von diesem Fokus eines permanenten Konfliktes immer mehr abzulenken. In dem Maße, wie die Krise die Traumata geweckt hat, kann sie auch die Gelegenheit bieten, eine Lösung zu forcieren. Zumindest hat sie gezeigt, daß der berühmte historische Kompromiß weiterhin im gemeinsamen Interesse aller Seiten liegt. Selim Nassib

Der Autor ist libanesischer Schriftsteller und Journalist und lebt in Paris.

(Entnommen aus: „Le Monde“ vom 6.Januar 1993. Übersetzung: thos)