Die eigene Haut als Gesellen- und Meisterstück

■ Er klaute Mutter's Nähnadeln, um sein erstes Tattoo zu stechen / In Walle tätowiert Andy Kowalski lichte und finsterste Wünsche

Warum fällt der kleine unscheinbare Tatowierladen auf, wenn man mit der Straßenbahn die Waller Heerstraße langfährt? Ahnt man, daß hinter der kümmerlichen Fassade ein seltsamer Meister seines Faches sitzt? Tattoo bei Andy geht es ein paar Kellerstufen runter, das Ladenfenster ist (natürlich) verhängt und dann liest man auf einem kleinen Schild, daß Andy „Kowalski“ heißt und kriegt eine Gänsehaut: Ko-wals-ki.

Andy ist Mitte 30 und sieht durchaus so heruntergekommen aus, wie man es für jemandem mit dem zwielichtigen Beruf „Tätowierer“ nur wünschen kann. Er raucht eine Gedrehte nach der anderen, räumt gerade Bierflaschen und andere Reste einer langen Nacht langsam beiseite und streut zwischendurch rote Würmer in das große Aquarium, welches das vordere Warteräumchen vom hinteren Behandlungszimmer abtrennt.

Stefan, freundlich, blond, jung, Handwerker, sitzt schon in ruhiger Erwartung auf einem Zahnarztstuhl. Er wird noch Stunden in diesem Kellerraum bleiben, geduldig warten, bis die Tattoonadeln abgekocht sind, geduldig warten, bis Andy die nötige Ruhe und Farbe gefunden hat, geduldig Stunden um Stunden unter dem scharf sirrenden Geräusch der vibrierenden Tattoomaschine das einigermaßen schmerzhafte Stechen in der Haut ertragen, dabei Bier trinken, Fernsehn gucken und hin und wieder ein Wort mit Andy wechseln. „Tätowieren ist nicht Stempeln - das geht oft die ganze Nacht,“ sagt Andy. „Andy ist ein Künstler“, sagt Stefan, „ich hab da ne Idee und er kriegt raus, was ich meine und macht so geile Sachen" - Stefan zieht sein T-Shirt hoch und zeigt eine kunstvolle Reihe von kleinen Elefanten, die, Rüssel an Schwanz, um seinen Oberarm ziehen. Darüber hockt ein vielfarbiger zart tätowierter Teufel nach japanischer Art „guck dir mal die tausend Farben an“, und auf den Rücken soll ein Zauberer, „als Ausgleich, weil ich gar kein finsterer Typ bin.“

Andy Kowalski aber kann die finstersten Träume tätowieren, exellent und freihand, wie die reichhaltige Fotosammlung seiner Arbeiten zeigt, alles Unikate. Und er kennt kein, fast kein Tabu. „Wenn einer kommt und will ein Spinnennetzt über das ganze Gesicht, dann weiß ich, das ist jemand, der hat was gegen die Art, wie Menschen leben. Kann ich den ändern? Nein. Also mach ich ihm sein Spinnennetz." Er tätowiert auch Hakenkreuze und Lippen für immer rot und Lidstriche und altdeutsche Flaggen. „Das eine was man muß, das andre was man will“.

Andy Kowalski hat eine Art Wunderkindheit hinter sich. Seit er fünf Jahre alt ist, schwärmt er für Tatowierungen, mit acht Jahren lieh er eine Nadel aus Mutters Nähkästchen und pickste sich die erste Kugelschreibertinte unter die Haut. Mit 14 machte er sich ein deutsches Kreuz („da war ich noch jung und wild“) und dann folgten nach und nach immer feinere und buntere Tätowierungen auf Brust und beiden Armen. Nie hat er einen fremden Tätowierer an seine Haut gelassen, die sein Gesellen- und Meisterstück ist. „Und ich bring's auch niemanden bei, nee. Tätowieren, das ist kein Lehrberuf“. Aber es ist ein Beruf. Andy stieg ein auf einem großen Motorradtreff in Assen / Holland. Es sprach sich rum, das da einer in seinem Wohnmobil tätowiert und die Biker standen an „wie beim Schlachter in Polen“. 80 Stunden nonstop-tätowieren für Andy. Später machte er eine Werkzeugmacherlehre, um sich die teuren Tatto-Pistolen selbst bauen zu können. Vor fünf Jahren eröffnete er seinen Kellerladen in Walle, ist ein Geheimtip in der Szene und bemalt außerdem Motorradtanks, Plastikbeinprothesen (eine lehnt an der Kommode), und macht Spiegelgravuren.

Während Andy einen blauen Nachthimmelstern auf Stefans Rücken nachtätowiert und Blut und Farbe abwischt, und Stefan ohne zu zucken, aber mit doch etwas gerötetem Kopf meditierend an die Wand gegenüber starrt, kommen zwei Männer rein, einer höchstens 30: „Du machst doch Übertätowierungen, kannste das wegmachen?“ Er zeigt einen Adler auf etwas, das vielleicht mal ein Hakenkreuz war. „Is schon 20 Jahre her, gibt immer so'n Ärger, im Schwimmbad im Ausland.“ Andy guckt auf, nickt, macht wortkarg einen Termin ab. „Willst du auch eine Tätowierung?“, fragt er mich. — Vielleicht ein Herz mit den Buchstaben meines Freundes. „Tu das nich, Mädchen, du weißt ja, die kriegst du nie wieder raus.“ Cornelia Kurth