Dandy in weißer Badehose

Allan Hollinghurst führt uns durch Schwimmbad und Bibliothek  ■ Von Rolf Spinnler

Wenn deutsche Leser einen englischen Roman zur Hand nehmen, fallen die ersten Reaktionen meistens sehr zurückhaltend aus. Langweillig und konventionell, sagen die einen, immer diese Landhäuser und gepflegten Teegespräche, bei denen nichts herauskommt. Mehr Spannung, mehr Action, mehr Sex bitte! Wo bleibt bei diesem seichten Geplauder der philosophische Tiefgang, wo die Moral von der Geschichte, monieren die andern. Offenbar haben wir hierzulande immer noch Schwierigkeiten mit dem, was man dort drüben auf der Insel „Zivilisation“ und sophistication nennt. Wo wir uns den Dichter als Originalgenie vorstellen, das mit wilder Gebärde und avantgardistischer Pose alle Traditionen verächtlich über den Haufen wirft, fehlt uns das Gespür für jene urbane Ironie, die mit den Konventionen spielt, ohne sie dabei zu zerstören. Und wo wir vom Schriftsteller erwarten, daß er uns mit pädagogischem Zeigefinger eine Botschaft verkündet, übersehen wir jenen subtilen Humor, der sanft und unaufdringlich den Romanfiguren eine Lektion erteilt.

Auch Alan Hollinghursts „Die Schwimmbad-Bibliothek“ erinnert einen auf jeder Seite daran, wie relativ unbeschädigt in England literarische wie soziale Traditionen alle historischen Verwerfungen überlebt haben.

Während die „Public Schools“, Oxbridge und das old boys network die Söhne der oberen Klassen mit dem nötigen Schliff ausstatten, sorgt die Tradition des englischen Gesellschaftsromans von Jane Austen bis E.M. Forster und Evelyn Waugh für einen professionellen Standard der Erzählkunst, auf den wir nur neidvoll blicken können. Alan Hollinghurst, 1954 geboren, Oxford graduate und inzwischen Redakteur beim Times Literary Supplement, beherrscht sie alle, die Kunstgriffe, die einen guten Roman der viktorianischen oder edwardianischen Ära auszeichneten: das subtile Knüpfen von Handlungssträngen und Motivgeflechten; die feinfühlige, leicht hingeworfene Charakterisierung der Personen; das beiläufige Ausleuchten der sozialen Milieus, in denen seine Figuren agieren; den snobistisch-elitären Tonfall.

Aber natürlich ist Hollinghurst kein Viktorianer mehr. Sein Buch kreist vielmehr unablässig um jenes Thema, das der viktorianische Roman gerade mit der größten Kunstanstrengung zu maskieren trachtete: es huldige dem Priapismus, war in der Rezension der FAZ zu lesen. Nun ja! Der Autor selbst hat sich dazu etwas weniger gespreizt und gewunden geäußert: „Mein Roman verherrlicht schwulen Sex.“

Wie das alles zusammenpaßt: die Konventionen des viktorianischen Gesellschaftsromans und das Sittengemälde aus der Londoner Schwulenszene der frühen achtziger Jahre? Nun, in etwa so. William Beckwith, der Ich-Erzähler des Romans, blickt zurück auf seine Belle Époque: auf den Sommer 1983, den „letzten Sommer, der noch einmal so sein sollte“. 25 Jahre ist er jung, hübsch anzusehen, Oxford hat er hinter sich, und da er aus einem reichen adligen Haus stammt, kann er sich dem gepflegten Müßiggang hingeben. Gay lifestyle – das bedeutet für ihn nachmittags eine Stunde im Schwimmbad eines schwulen Sportklubs, abends der Opernbesuch in einer Loge von Covent Garden, nachts die gay disco. Und jeden Beau, der ihm bei seinen Streifzügen über den Weg läuft, möchte er am liebsten sofort ins Bett ziehen.

Natürlich kann das nicht immer gutgehen. Aber keine Angst: der Roman hält keine Moralpredigt, die als „verdiente“ Strafe für soviel verantwortungslose Promiskuität den Helden an Aids krepieren läßt, und er bietet auch kein Safer-Sex- Kompendium zum Überleben in härteren Zeiten. Nein, es ist das Leben selbst, das ihm seine Lektionen erteilt. William lernt durch Zufall den 83jährigen Lord Nantwich kennen, der ihm vorschlägt, anhand seiner Tagebücher seine Biographie zu schreiben. So erfährt er, wie die Homosexuellen einer früheren Generation gelebt haben. Narziß blickt plötzlich in einen fremden Spiegel, und wie Oscar Wildes Dorian Gray muß er erkennen, daß seine Jugend vergänglich ist. Kunstvoll verknüpft der Roman die Geschichte der beiden immer enger miteinander: Williams sorglose Hingabe an den sexuellen Genuß des Augenblicks und jene Erfahrung und Erinnerung, die aus den Büchern kommt. Schwimmbad und Bibliothek sind die Pole von Hollinghursts schwuler Welt. Im Umkleideraum und unter der Dusche zählt nur der schöne, begehrenswerte Körper; in der Literatur artikuliert sich die Geschichte der homosexuellen Sensibilität.

Der Literaturkritiker George Steiner hat einmal behauptet, die ganze englische Literaturgeschichte ließe sich unter dem Aspekt der Homosexualität neu schreiben. Was soviel heißen soll wie: Alan Hollinghurst ist würdiger Erbe einer langen Tradition, der Autoren wie Oscar Wilde, W.H. Auden, Christopher Isherwood oder Stephan Spender angehören. So ist es nur zu begrüßen, daß dieses amüsante, geistreiche und elegant geschriebene Buch jetzt, vier Jahre nach der englischen Originalausgabe, in der stilsicheren Übersetzung von Eike Schönfeld auch auf deutsch vorliegt.

Ein erotischer Roman, der sowohl Pornographie als auch éducation sentimentale ist – und einen vergessen läßt, daß es einen Unterschiel zwischen den Genres überhaupt gibt.

Alan Hollinghurst: „Die Schwimmbad-Bibliothek“. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1992. 496 Seiten, geb., 45DM.