Oberstes Gericht: „Laßt Erich Honecker frei“

■ Berliner Verfassungsgericht gibt Haftbeschwerde statt

Eine Entscheidung ist gefallen. Aufhebung des Haftbefehls gegen Erich Honecker und Einstellung des Strafbefehls gegen den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR lautet das Diktum des Berliner Verfassungsgerichts, das von den Anwälten des Angeklagten angerufen worden war. Die Beschlüsse der Berliner Gerichte vom 21. und 28. Dezember 1992 verletzten Erich Honecker in seiner Menschenwürde. Sowohl das Berliner Landgericht wie auch das Kammergericht hatten eine Fortsetzung des Verfahrens bejaht, obwohl sie der Ansicht der Mediziner folgten, daß Honecker seinen Prozeß nicht überleben dürfte.

Allerdings befand das Verfassungsgericht nicht selbst über eine sofortige Freilassung Honeckers, sondern verwies die Entscheidung über die Aufhebung des Haftbefehls und die Einstellung des Strafverfahrens an die 27. Große Strafkammer des Berliner Landgerichts unter Beachtung der Rechtsauffasssung des Verfassungsgerichts zurück. Eine Entscheidung kann allerdings noch vor dem nächsten Prozeßtermin, der für Donnerstag angesetzt ist, fallen. Nach Auskunft des beisitzenden Richters Michael Abel begann die Strafkammer bereits am gestrigen Nachmittag mit der Beratung. Eine Entscheidung war bei Redaktionsschluß noch nicht gefallen.

In dem Beschluß des Berliner Verfassungsgerichts heißt es vor allem: „Ein Strafverfahren kann seinen Zweck, eine verbindliche Entscheidung über die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten herbeizuführen, nicht mehr erreichen, wenn der Angeklagte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ende des Strafverfahrens nicht mehr erreicht (sprich: der Angeklagte stirbt). Es wird damit zum Selbstzweck. Für die weitere Durchführung gibt es keinen rechtfertigenden Grund.“

Interessanter- und ironischerweise bedient sich das höchste Berliner Gericht in seiner Begründung damit fast wörtlich der Argumentation des Honecker-Anwalts Nicolas Becker. Dieser hatte von Beginn des Prozesses an und bei jedem Antrag auf Freilassung seines Mandanten darauf gedrungen, Honecker nicht zum bloßen „Objekt“ des Strafrechts zu machen. Analog dazu führte das Verfassungsgericht jetzt aus: „Der Mensch wird zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen, wenn sein Tod derart nahe ist, daß die Durchführung eines Strafverfahrens seinen Zweck verloren hat.“ Gesondert rügt das Verfassungsgericht, daß sowohl das Landgericht als auch das Kammergericht in ihren Entscheidungen über die Fortführung des Prozesses nicht einmal die „Möglichkeit der Verletzung von Grundrechten“ in Erwägung gezogen hätten.

Sollte Honecker tatsächlich freikommen, ist offen, ob er die Bundesrepublik in Richtung Chile verlassen kann. Nach Anwaltsauskünften verweigert das Berliner Landeseinwohneramt die Ausstellung eines Passes. Die Behörde wolle prüfen, ob durch eine Paßerteilung das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland gefährdet werde. Am gestrigen Nachmittag waren Innen- und Außenministerium sowie Kanzleramt mit der Paßfrage beschäftigt. ja