Jakob van Hoddis im ICE

■ Zaghafte Experimente beim neuen ARD-Magazin "Zeitsprung", 20.15 Uhr

Der Elektrowecker hat kaum begonnen zu piepen, da springt der jung-dynamische Protagonist schon aus dem Bett, reckt sich noch kurz, ein selbstverständlicher Griff nach der Kaffeemaschine, und ab geht's unter die Dusche. Autofahrt im Spargolf und Zappen vor der Glotze runden den Drei- Minuten-Clip bundesdeutscher Wirklichkeit ab. 15 Liter Öl braucht diese Wirklichkeit pro Person und Tag, sagt die Einblendung am Schluß.

Der Clip soll einen Zeitsprung im Programm der Öffentlich- Rechtlichen markieren. Und deshalb heißt das neue, von SWF und HR koproduzierte Projekt auch ebenso. Franz Alt hat zusammen mit den TV-Journalisten Jochen Faulstich und Gerold Hafner eine Sendung konzipiert, die weg will vom klassischen Magazin-Journalismus. „Nach 20 Jahren ,Report‘ habe ich die Nase voll von Ausgewogenheit, zumal parteipolitischer Ausgewogenheit.“ Die neue Sendereihe – geplant sind drei Folgen im Jahr – werde mit neuen Fernsehformen und ausgewiesenen Experten „bewußt parteiisch“ sein. Den Anfang machen im Studio der Chefingenieur Joachim Nitsch von der Deutschen Forschungsgesellschaft für Luft- und Raumfahrt, Hermann Scheer (SPD) von Eurosolar und der Ökologe Dieter Teufel vom Heidelberger UPI-Institut. Die Botschaft: Im Jahr 2005 ginge es schon mit viel weniger Energie, und 2030 könnten sogar 90 Prozent des übriggebliebenen Energiebedarfs in der Bundesrepublik ökologisch korrekt gedeckt werden – wenn man nur wollte.

Nicht nur die Ausgewogenheit soll beim „Zeitsprung“ über Bord gehen. Auch technisch und ästhetisch haben sich die Macher von vom klassischen Polit-Magazin entfernt: Fernsehfilm-Szenen einer Familie der Zukunft und fingierte Nachrichten bestimmen große Teile der Sendung. Dazu wird zaghaft noch, aber immerhin, mit neuen Techniken experimentiert. Also wird ein bißchen „gepastet“, werden Bilder technisch manipuliert. Alt und sein MitstreiterInnen lassen per Computer einen ICE entgleisen (Erdrutsch wegen Klimakatastrophe) und Heuschreckenschwärme vorm Brandenburger Tor landen. Dazu liest ein Mädchen ein Gedicht des expressionistischen Dichters Jakob van Hoddis („Die Eisenbahnen fallen von den Brücken...“).

Neue Formen brauchen auch neue Leute: Den Einstiegs-Clip haben Filmer gemacht, die seine Kinder seien könnten, sagt der ergraute Ex-„Report“-Mann – „junge Leute unter 30“. Gepastet wird aber nicht nur die Apokalypse, gepastet werden später auch die Autobahnen, die angesichts der fünf Millionen übriggebliebenen Öko-Autos in Deutschland zukünftig ziemlich verlassen wirken, und die Industriebrachen, auf denen schnellwachsendes Schilfgras zur Energieerzeugung und zur Entgiftung des Bodens beiträgt. In gefakten Ausgaben der „Tagesschau“ ist sie schon Wirklichkeit, die „Energiewende 1993“, deren Kernstück eine Abgabe auf jeglichen Energieverbrauch ist.

Das „Zeitsprung“-Experiment ist teurer als ein übliches Magazin, und so gab es auch finanzielle Widerstände bei Alts Haus-Sender Südwestfunk. Doch kostet die Dreiviertelstunde Zukunft immer noch nur wenige Prozente eines „Großen Bellheim“. Franz Alt hoffte im Gespräch mit der taz, „daß das Thema attraktiv genug ist auch für zweistellige Einschaltquoten“.

Den MacherInnen ist zu wünschen, daß ihr ästhetischer Mut sie in Zukunft noch ein wenig weitertreibt. Dann könnte „Zeitsprung“ glatt unbezahlbar werden. Hermann-Josef Tenhagen