Erich Honecker war wegen seiner „historischen Verantwortung“ für die Todesopfer an der Berliner Mauer ein halbes Jahr lang der prominenteste Häftling im neuen Deutschland. Der ehemalige SED-Chef, sein ganzes Leben überzeugter Kommunist, wird auf Erden seinen Richter nicht mehr finden.

Letzte Ausreise

Letzte historische Szenen mit Erich Honecker – Abgang in Moabit. Das Interesse ist größer, wohl auch ein wenig absurder, als bei jedem seiner früheren Staatsbesuche. Die Flüge nach Chile waren längst ausgebucht. Jetzt noch die Ankunft in Santiago, mit Strohhut, oder ohne? Wird er winken, lächeln oder erneut die Faust ballen, als späten Hohn auf den Rechtsstaat, der ihn doch noch laufen ließ?

Egal, keiner der Prozeßbeteiligten, außer den Vertretern der Nebenklage, hat am Ende noch ernstlich an eine Alternative zur Haftentlassung des 80jährigen geglaubt. Doch gerade weil die Freiheit für Erich Honecker unmittelbar bevorstand und nur noch als eine Frage der Abwicklung diskutiert worden war, gewann die alles beschleunigende Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofes vom Dienstag spektakulären Charakter. Die Verfassungsrichter wollten nicht einfach abwarten, bis die 27. Strafkammer des Landgerichtes am heutigen Donnerstag ihre vorweihnachtliche Fehlentscheidung korrigiert und ihr Gesicht halbwegs gewahrt hätte. Ganz offensichtlich wollte das oberste Berliner Gericht – neben einer rechtsstaatlich vertretbaren Behandlung Honeckers – seine massive Kritik an der Entscheidungspraxis der Strafkammer loswerden.

Das ist gelungen. Bis hin zum Beschluß des früheren Vorsitzenden Hansgeorg Bräutigams, das Verfahren überhaupt zu eröffnen, gerät der Versuch ins Zwielicht, Honecker unter allen Umständen auf die Anklagebank zu bringen. Im Interesse der Wahrung seiner Menschenwürde darf niemand „zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen gemacht werden“, lautet die einschlägige Formulierung an die Adresse der Moabiter Richter und Staatsanwälte.

Das betrifft auch die Entschlossenheit der bundesdeutschen Politik, die – allen voran Außenminister Klaus Kinkel – Honeckers Rückführung betrieben hat. Gerade weil die Strafverfolgung des einstigen Staatschefs an dessen Gesundheitszustand scheiterte, stellt sich noch einmal die Frage, wie gut die Bonner Akteure im Bilde waren, als sie mit unangenehmer Offenheit Moskau und Santiago zur Auslieferung zwangen.

Selbst wenn die Bundesregierung von den medizinisch-diagnostischen Mauscheleien in Moskau nichts gewußt hat, zeichnet sie für den Moabiter Fehlschlag mitverantwortlich.

Eine Spur politischer Legitimation

Der Rest ist Blamage: keiner der früheren Bonner Verhandlungspartner hat sich dazu durchringen können, die eigene persönliche Rolle im deutsch-deutschen Entspannungsreigen zu thematisieren, die gemeinsamen Sofastunden mit dem Staatsratsvorsitzenden in Erinnerung zu rufen und dennoch die Strafverfolgung Erich Honeckers offensiv zu verteidigen. Das verschafft dem spektakulären Abflug – neben der rechtsstaatlichen – zumindest eine Spur politischer Legitimation.

Doch das ist eher ein bundesrepublikanischer Nebenaspekt. Ihn wird man den Opfern des Regimes kaum begreiflich machen können. Sie, von denen einige das Verfahren im Gerichtssaal verfolgen konnten – immer in Konfrontation mit den wenigen, aber lautstarken Ewiggestrigen aus der geschrumpften Honecker-Fan-Szene –, werden nach der Entlassung des politisch Hauptverantwortlichen mit Unverständnis und Resignation reagieren.

Man muß sich die bluttriefenden Passagen der Anklageschrift – Obduktionsbefunde, Zeugenaussagen, DDR-amtliche Tathergangsprotokolle – zumuten, um auch nur annähernd die Bitterkeit begreifen zu können, die die Entscheidung bei den Hinterbliebenen der Opfer auslöst. Die Nebenklägerin Irmgard Bittner weiß bis heute nicht, wo ihr 1986 an der Mauer erschossener Sohn begraben liegt. Nichts läßt sich da mit der Genugtuung über eine späte, rechtsstaatskonforme Entscheidung kompensieren.

Jetzt kann über Schießbefehl verhandelt werden

Das um so weniger, als die Vertretung der Nebenklage im Verfahren selbst auf fatale Weise den Vergeltungsimpuls befördert hat. Statt ernsthaft die Genugtuungsansprüche der Hinterbliebenen zu vertreten, hat insbesondere Rechtsanwalt Plöger immer wieder versucht, rechtsstaatliche Einwände mit dem Verweis auf die brutale Rechtspraxis unter Honecker zu entkräften.

Auch solche Auffassungen hat das Berliner Verfassungegericht eindeutig beantwortet: es verstehe sich von selbst, heißt es in der Begründung vom Dienstag, daß die Rechte der Moabiter Angeklagten nicht davon berührt sein könnten, „daß die DDR Angeklagten und Untersuchungsgefangenen einen auch nur annähernden Schutz der Menschenwürde nicht gewährt hat.“

Für die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bürger schien der Honecker-Prozeß ohnehin nur von mäßigem Interesse. Daß sie das naheliegende Angebot einer entlastenden Schuldprojektion auf den langjährigen Vorsitzenden begeistert wahrgenommen hätten, läßt sich jedenfalls kaum behaupten. Eher wohl findet in der mäßigen Anteilnahme der DDR-Bürger am Moabiter Prozeß der Überdruß gegenüber allen Versuchen der Aufarbeitung ihren Ausdruck.

Mit Honeckers Ausreise wird die allgemeine Unlust, sich der Vergangenheit zu stellen, eher wachsen. Denn ungeachtet dessen, daß die Einstellung des Verfahrens aus gesundheitlichen Gründen – über den Fall Honecker hinaus – nichts zu den Chancen strafrechtlicher Aufarbeitung aussagt, wird Honeckers spektakuläre Abreise das öffentliche Bewußtsein maßgeblich beeinflussen: Der Anspruch auf Strafverfolgung der unteren Chargen scheint diskreditiert, die nichtjuristische Aufarbeitung gerät leicht zum aufgeblähten, jedoch folgenlosen Gerede.

Nach dem Ausscheiden des Hauptangeklagten erscheint die Fortsetzung des Rumpfprozesses kaum aussichtsreicher, obwohl ab sofort nicht mehr über Blut- und Leberwerte, sondern über die Existenz des Schießbefehls an Mauer und innerdeutscher Grenze verhandelt werden kann. Doch Ex- Verteidigungsminister Keßler spricht nicht mehr, Bezirksfürst Hans Albrecht war schon früher, zu Zeiten des Nationalen Verteidigungsrates schwerhörig, Major Streletz zeigt sich willig, nur leider nicht zuständig. Wird er, wie es der Bürgerrechtler Jens Reich einmal prognostizierte, am Ende für alles Unrecht des DDR-Regimes geradestehen müssen. Am kommenden Montag wird in Moabit weiterverhandelt. Matthias Geis