Familie Honecker wiedervereinigt

■ Honi-Hunting in Berlin/ Erich H. buchte zehn Flüge und ward nirgendwo gesehen

Berlin (taz) – Jubelnd stehen die werktätigen Massen vor dem Gerichtsgebäude in Moabit. Sie schwenken Winkelemente und rufen: „Unser Generalsekretär – er lebe hoch!“ In Hut und Mantel, ein Köfferchen in der Hand, nimmt der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR und Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Genosse Erich Honecker, Abschied von seinem Volk. Mit siegessicherem Lächeln ballt er die Faust, reckt sie in die Luft, und hört man ihn nicht sogar murmeln: „Vorwärts immer...“?

So hätte es sein können, gestern, nachdem der 14. Strafsenat des Berliner Landgerichts den letzten Haftbefehl gegen den einstigen DDR-Staatschef aufgehoben hatte. Doch wo war das Volk und vor allem – wo war Honecker?

Seit den Morgenstunden ging die Presse in Berlin auf Honi- Hunting. Wo steckt er? Wann fliegt er? Nimmt er die Route über Madrid oder Miami, über New York oder vielleicht doch über Frankfurt? Ab 10 Uhr vormittags hätte der alte Mann die Justizvollzugsanstalt als freier Mensch verlassen können. Gegen 11 Uhr wollen auf der Lauer liegende Beobachter gesehen haben, wie das Licht in Zelle 103 erlosch. Nur den Insassen sahen sie nicht.

Zwei Spartakisten hatten sich vor dem Gerichtsgebäude eingefunden und forderten ein wenig anachronistisch „Freiheit für Honecker“. Auch die Gegenseite war vertreten: eine Handvoll Leute, die ihren ehemaligen Peiniger sonstwohin wünschten, nur nicht zu seiner Familie nach Chile.

„Es sollte mich nicht wundern“, schimpfte ein Ostberliner Maler, „wenn der in Chile plötzlich wieder kerngesund ist“. Vielleicht lag der 62jährige, der aus politischen Gründen zwei Jahre im Cottbusser Knast saß, mit seiner Prognose gar nicht so falsch. Der Leberkrebs des ehemaligen DDR-Staatschefs „ist mit guten Erfolgsaussichten operabel“. Mit dieser Nachricht wartete gestern der medizinische Gutachter Peter Neuhaus auf. Dies habe er Honecker am Dienstag abend in einem einstündigen Gespräch mitgeteilt. Auch das Gericht wußte von Neuhaus' Stellungnahme, doch ließ es sich in seiner Entscheidung nicht beeinflussen.

„Durch Pforte 6 soll er kommen“, war gegen Mittag der heiße Tip für die durchfrorenen Journalisten. Fotografen und Kameramänner belagerten die Ausfahrt, Polizisten schirmten das Gelände ab. Plötzlich ging das Tor auf. Doch statt Honecker verließen zwei Versorgungsfahrzeuge mit der Aufschrift „Bärenmenü“ den Knast. „Wir sind Honeckers letzte Opfer“, fluchte ein Reporter.

Kurz nach 12 Uhr wurde der Polizeikordon abgezogen. „Honecker hat einen anderen Ausgang genommen und ist bereits auf dem Weg nach Tegel“, lautete die Parole. Alles stürzte zu den Wagen und raste zum Flughafen. Dort herrschte Chaos. Honecker hatte nach Aussagen verschiedener Fluggesellschaften an die zehn Flüge gebucht.

Drei alte Männer vom „Solidaritätskomitee Erich Honecker“ warteten am Schalter der „Iberia“, um dem Scheidenden das Geleit zu geben. Die Presseleute im Gefolge. Die Maschine nach Madrid war startbereit. Aber der Abflug verspätete sich um eine halbe Stunde. Honecker traf keine Schuld. Ein Hund hatte den Start verzögert. Das Tier wollte nicht im Gepäckraum verstaut werden.

Als sich die Maschine in die Luft hob, saßen drinnen jede Menge Journalisten – nur nicht Erich Honecker. Der verließ Moabit angeblich um 15.02 Uhr in einer dunkelblauen Limousine mit getönten Scheiben unter Sirenengeheul und fuhr nach Tegel. Doch niemand hat ihn gesehen. Sein Abflug war für 20.00 Uhr vorgesehen. Auf der anderen Seite des großen Teiches wartet das Empfangskomitee mit selbstgebackenem Kuchen. bam

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