Hoffnungen, vielleicht mehr

Nach mehr als fünfzig Rennen hat der Sechstagefahrer Markus Hess vom Hinterherfahren genug/ Wegen der Konjunkturflaute im Radsport werden die Sparreserven angegriffen  ■ Aus Stuttgart Peter Unfried

Da ist also diese Pritsche irgendwo im Fahrerlager, und auf der liegt der Sechstagefahrer Markus Hess und ruht sich aus. Oder er sitzt davor und bandagiert sich die Hände mit Klebestreifen. Oder er zieht die Rennhandschuhe über. Oder er beantwortet blöde Fragen von naseweisen Burschen. Letzteres allerdings seltener. Denn wer kennt schon Markus Hess? Wer will was von ihm wissen? Der Sechstagefahrer Hess ist seit sechs Jahren im Geschäft, aber ein Rennen hat er bisher noch nicht gewonnen. Nicht einmal annähernd. Aber er ist immer dabei, den ganzen Winter, heute in Bremen, gestern noch in Stuttgart. Davor in Köln, Wien, München, Dortmund. Über 50 Sixdays hat er inzwischen heruntergestrampelt, ist über fünfzigmal sechs Tage im Kreis herumgefahren oder lag auf seiner Pritsche, um sich dafür auszuruhen. Das ist fast ein ganzes Jahr seines Lebens.

Jetzt ist er 29. Und hofft, daß alles erst richtig anfängt. Mit dem Sindelfinger Gert Dörich zusammen ist der Tübinger dabei, sich bei den Veranstaltern als festes Team zu etablieren. „So“, sagt er, „bieten sich größere Möglichkeiten, als wenn ich mal mit dem einen, dann wieder mit einem anderen fahren muß.“ In Stuttgart gelten die beiden als Lokalmatadoren, hier haben sie bereits im Vorjahr mit Platz sieben von sich reden gemacht. Dieses Mal nun, glaubt Hess, den Abstand zur absoluten Spitze, den Clarks, de Wildes, Freulers und Pieters noch kleiner gemacht zu haben. Siege in der „großen Jagd“ und jener „über die unbekannte Distanz“, zahlreiche Rundengewinne und am Ende ein sechster Platz lassen ihn hoffen: „Wir haben Tuchfühlung zur Spitze.“ Deutlicher als früher hat er während der Stuttgarter Tage gemerkt, „es ist noch alles möglich“.

Sein Wissen: Die Uhr eines Bahnradfahrers tickt länger als die anderer Leistungssportler. Sein Erfahrungswert: „Es gibt eine normale Altersbegrenzung von 35, 36.“ Seine Hoffnung: „Das sind bei mir noch fünf, sechs Jahre.“

Es ist nicht so, daß der Mann unbedingt im Kreis fahren müßte. Profi wurde er als Medizinstudent im vierten Semester, „um zu machen, was mir Spaß macht“. Jetzt, sagt er, macht es noch immer Spaß. Nur stelle sich die Frage nach der Zukunft. Zurück an die Uni? Eher nicht, Hess hat ausgerechnet, daß es ihn, „um da zu sein, wo ich hin will“, noch einmal zehn Jahre kosten würde, „dann bin ich vierzig“. Andererseits hat er als Opfer der Konjunkturflaute, die die Radprofis hart getroffen hat, keinen Vertrag für die Sommersaison.

Bleibt das so, muß er demnächst das Sparkonto mit dem Namen „Zukunft“ anreißen, das er sich in den Wintern hart erstrampelt hatte. Aber: „Wenn ich mit 35 aufhöre und hab nichts auf der Seite, dann fang ich ganz von vorne an.“ Da sei es besser, gleich aufzuhören und sich einen „anständigen Beruf“ zu suchen.

Oder aber die Flucht nach vorne anzutreten. Da wo Blumen winken, die Siegerküßchen links und rechts und wieder links, und vor allem die dickeren Geldbündel. „Klar“, sagt Markus Hess, der gerne „klar“ sagt, ohne Umschweife, „langfristig muß man mal ein Sechstagerennen gewinnen oder zumindest mal auf dem Treppchen stehen.“ Oder vielleicht reicht auch schon, „wenn ich bei mehreren Rennen hintereinander Vierter, Fünfter werde.“

Jedenfalls ist Hoffnung da, seit er mit dem Jungprofi Dörich zusammen fahren kann, den man allerorten als großes Talent preist. Oder konkret, da ist inzwischen mehr als Hoffnung: Die sei letztes Jahr entstanden, heuer nur habe sich gezeigt, daß „das nicht nur Illusion ist“. Das kann man am sichersten anhand der eigenen Stellung innerhalb der strengen Hackordnung unter den Fahrern überprüfen. „Da gibt es Momente, wo eine Mannschaft sagt, die lassen wir jetzt fahren, da können wir eh nichts mehr machen.“ Früher dagegen haben noch die allerletzten Hinterherradler geglaubt, „was die können, können wir auch“.

In Stuttgart fuhren Hess/Dörich mit nur einer Runde Rückstand und „der Hoffnung, daß wir noch eine Chance haben“, in die Finaljagd ein. Doch als die Branchenführer Etienne de Wilde und Danny Clark vorne aufs Gas drückten, da hatte sich der Platz auf dem Treppchen schnell erledigt. Am frühen Donnerstag gegen zwei Uhr hat Markus Hess seinen Krempel höchstselbst aus der Schleyerhalle getragen, ist heim nach Tübingen gefahren und hat sich morgens gegen sieben bereits wieder auf den Weg nach Bremen gemacht.

Seit gestern abend liegt er nun dort auf der Pritsche, wenn er nicht fährt, und fährt, wenn er nicht auf der Pritsche liegt. Und sonst? „Neues Spiel, neues Glück“, sagt der Schnauzbartträger, „wir haben gezeigt, daß wir vorne mitfahren können.“ Und: „Vielleicht klappt es ja hier.“ Jenes Kunststück nämlich, das der Zauberlehrling seit Jahren anstrebt: Nicht raus aus dem Oval, nur schneller um es rumfahren als die anderen.