Das Fremde in nächster Nähe aufgespürt

■ Jugendprojekt Kaspar Hauser - Fremdsein im Thalia versucht den theatralischen Rahmen zu sprengen

im Thalia versucht den theatralischen Rahmen zu sprengen

Ein Kreis aus einem Dutzend Teelichtern flackert am Sonntag nachmittag im Mittelrangfoyer des Thalia. Auf Tuchbahnen hängen vier wie mit Rauch gemalte lange Gestalten von den Geländern des Balkons, der das eliptische Foyer umgibt. „Lichterkette I“ ist die erste Station von Szenen und Bildern des Jugendtheaterprojektes Kaspar Hauser — Fremdsein im Thalia Treffpunkt. Im Oktober 1992 hatten die zwölf Jugendlichen unter der Leitung des Theaterpädagogen Herbert Enge mit ihrem dramatischen Experiment über das Fremdsein begonnen. Mit dem aktuellen Symbol lassen sie ihre Untersuchung, die „kein Theaterstück im herkömmlichen Sinne“ sein will, beginnen.

Doch dem friedlichen Lichterkreis, der in diesen Zeiten fast überstrapaziert zu werden droht, folgen Gehetze und Rennerei, rundherum bricht Publikumsbeschimpfung los, kokettierend und provozierend werfen die Akteure ihren Zuschauerinnen und Zuschauern Schmeicheleien ins Gesicht: „Du bist die Intelligenteste!“, „Blöde Kuh!“, „Verpiß Dich!“, „Du Ratte!“ Als Konsequenz der Hetze scheint da der Brief ins Spiel zu kommen, der Kaspar Hausers Tod — er wurde im Jahre 1833 von Unbekannten erstochen — beschreibt. Man reißt sich das Schriftstück aus der Hand, atemlos wird die Nachricht vorgelesen. Und schon tritt in der nächsten Szene wieder absurde Betriebsamkeit ein. Drei kräftige Jungs setzen Straßenbaukegel in einer sich immer wiederholenden Choreografie der Eintönigkeit voreinander. „Man hätte den Kaspar mal fragen können, wie's ist mit dem Denken“, wird beiläufig und wieder zu spät eine immer noch spannende Frage gestellt, die freilich schon sämtliche Pädagogen und Psychologen brennend interessierte. Am Phänomen Kaspar Hauser suchte man zu ergründen, wie ein Mensch zum funktionierenden Mitglied der Gesellschaft „entwickelt wird“. Daß die gesellschaftlichen Dressurakte, die bestimmen, was fremd ist, auch steinzeitlichen Reaktionsmustern im Stammhirn gehorchen, weiß man inzwischen.

Für die Szenenfolge plünderten die Jugendlichen nicht nur ihren eigenen Erfahrungsschatz. Sie studierten Dokumentationen zu Kaspar Hausers Leben von Dieter Forte bis Peter Handke, durchpflügten die Gebührenordnung zum Ausländergesetz genauso wie das Grundgesetz. Nüchtern vorgetragen verschleiert die Gebührenordnung, die die Preise für Aufenthaltsgenehmigungen, für Widersprüche in diesem oder jenem Verwaltungsvorgang regelt, daß die trockenen Zahlen für Schicksale ganzer Familien stehen. Die Szene wirft ein Licht darauf, wie bürokratisch befremdlich mit Fremden in diesem Land verfahren wird.

1„Scheiß Schwuler“ wird aus einer Gruppe geschrien, die im nächsten Moment in Einzelpersonen zerfällt, die plötzlich nicht mehr in gefährlichem Kategoriendenken unter Gruppenzwang verharren: Verständnis und Interesse am Anderen bringt Spaß. Passagen aus der Rede, mit der der frühere ägyptische Staatspräsident Sadat

1im israelischen Parlament

1977 für den Frieden zwischen Muslimen, Christen und Juden appellierte, werden auf Arabisch vorgetragen. Die deutsche Übersetzung bekommt das Publikum per Flugblatt, eine Aktion, die über den dramatischen Rahmen des Projektes hinausweist, wie auch die Sammelaktion zu Gunsten von

1Nachbarschaftsinitiativen für Asylbewerberdörfer am Ende der Veranstaltung. Einfach etwas vorzuspielen, genügt den zwölf Akteuren nicht. Das Publikum nimmt teil an der Suche, am Vortasten zum Fremden in nächster Nähe. jk

Weitere Vorstellungen: heute, 21., 24.1., 1., 4.2., jeweils 16.30 Uhr, Mittelrangfoyer des Thalia