■ Zum gestörten Verhältnis zwischen Medien und Politik
: Streikrecht für Politiker

Oskar Lafontaine ist in einen Schußwechsel geraten. Nein, nicht zwischen Bodyguard Totila und Rotlicht-Hugo. Das Gefecht findet zwischen Spiegel und Focus statt. Das alte und das neue Nachrichtenmagazin kämpfen um die Gunst der Leser. Darum entlarvt der Spiegel pünktlich zum ersten Erscheinungstag der unliebsamen Konkurrenz Lafontaine und seinen Fraktionschef Klimmt in einem Artikel, der, wie man munkelt, schon seit drei Wochen vorliegt. Bestimmt ist es dem Zufall und nicht der Betriebsspionage geschuldet, daß Focus gestern ausgerechnet ein wohlwollendes Interview mit dem bescholtenen Ministerpräsidenten publizierte, das im Lichte der Affäre publizistisch sofort zu Staub zerfällt. Derweil streiten sich die Redaktionen von Spiegel und Stern immer noch, wer sich die Möllemann-Kerbe in den Colt ritzen darf. Bild und Express schauen traurig, weil sie bei Frau Schwaetzer nur einen Streifschuß landen konnten. Daß n-tv und vox gerade versuchen, gegeneinander desavouierende Unterlagen über Klaus Kinkel und Theo Waigel zu ersteigern, ist ein bislang unbestätigtes Gerücht.

Es spricht nichts dagegen, wenn die Medien den Politikern auf die Finger schauen. (Bei anderen Körperteilen ist das weniger eindeutig.) Aber was derzeit unter dem wachsenden Konkurrenzdruck der verschiedenen Blätter und Sender geschieht, ist etwas ganz anderes. Jürgen Möllemann stürzte nicht über den Vetter. Er verbrannte in künstlich erzeugter Hitze. Gleiches gilt für die aktuelle Kampagne gegen die Saar-Spitze. „Die Geschichten des O.“ sind in ihrem realen Kern bisher ärmlich: Ein Ex-Rocker als Wächter eines Leibes, der beinahe einem Attentat zum Opfer gefallen wäre. Kontakte zur Halbwelt, naja. Und daß Oskar Lafontaine vor 20 Jahren gelegentlich ein Bordell besucht haben soll, ist mehr ein Skandal des Spiegel als des Ministerpräsidenten. Denn bislang war das Sexleben der Politik-Prominenz nach ungeschriebenen Gesetzen tabu. Aus einem einfachen Grund: Menschenwürde. Wir erleben derzeit eine Gratwanderung zwischen notwendiger Aufklärung und unverantwortlicher Hetze. Mit der Rotlicht- Geschichte hat der Spiegel die Grenze eindeutig überschritten. Diesmal war so wenig Substanz drin und soviel Unterstellung, Polemik, Manipulation, daß sich der ganze Skandal zur einen Hälfte vielleicht auf Reinhard Klimmt, zur anderen ganz sicher auf das Nachrichtenmagazin verteilt. Bei jedem Politikervergehen gleich nach der Höchststrafe zu schreien, macht aus der Selbstreinigung einen Selbstzerstörungsprozeß. Das Volk, der große Voyeur, wird sich bedanken. Es ist derzeit stets auf der Suche nach einem Argument, warum einzig die Politiker an der Misere schuld sind. Die politische Klasse sollte in den Streik treten, um bessere Tarife bei der Schuldverteilung zu erkämpfen. Diese Woche beklagt der Spiegel zum x-ten Mal, wie schlimm die Politiker sind. In der nächsten Woche wird er mit großen Augen fragen, warum es in Deutschland keinen Bill Clinton gibt. Die Antwort sei hier vorweggenommen: Wer trotz der korporatistischen Enge in den Parteien Charisma entwickelt, wird spätestens vom populistischen Furor in den Tarnanzug zurückgezwungen. Die Medien wollen Helden und erzeugen Höflinge. Helmut Kohl und Rudolf Augstein haben es bald geschafft: Deutschland wird zum Land ohne politische Persönlichkeiten. Bernd Ulrich

Lebt als freier Autor in Köln.