Die Suche nach dem Schwarzen Peter

Die Bahnreform in ihrer bisher geplanten Form wird ohne eine massive Belastung des Straßenverkehrs zum Abstellgleis für viele Regionalzüge/ Finanzierung bisher völlig unklar  ■ Von Helmut Holzapfel

Die Bahnen transportierten im Jahr 1991 insgesamt 1.070 Millionen Personen. Davon fuhren aber nur 105 Millionen im Fernverkehr über 50 km. Also: 9 von 10 Reisenden benutzen die Züge als Nahverkehrsmittel. Und nur einer von 20 Zügen dient dem Fernverkehr – das berichtet die Zeitung Bahn aktuell, die von der Reichs- und der Bundesbahn herausgegeben wird.

Privatisierung und Regionalisierung der Bahn sind die Stichworte des heutigen Gesprächs zwischen Regierung und SPD-Vertretern in Bonn – es geht also fast um alles, was die Bahn ausmacht. Den Nahverkehr, also fast die ganze Bahn, sollen in Zukunft die Regionen übernehmen. So hat es die EG beschlossen, in der für sie völlig untypischen Ansicht, mehr regionale Kompetenz werde zu billigeren und effektiveren Lösungen führen. Unklar ist freilich das Entscheidende: Wer soll bezahlen?

Die Bundesregierung will und kann die Bahn gar nicht mehr unterhalten. Bundesverkehrsminister Krause gibt sein Geld – unter der Überschrift: Vorrang für die Schiene – vor allem für die Straße aus. Dies geht schon seit Jahren so. Schaut man sich die Investitionsbeträge für die verschiedenen Verkehrsträger seit den 70er Jahren an, so hat die Bundesbahn kaum je mehr als leicht über ein Drittel der Investitionsbeträge erhalten. Die Bahn steht heute im Vergleich zum Autonetz deutlich schlechter da. In besonders miserablem Zustand sind zahlreiche Nahverkehrsstrecken und die daran gelegenen Bahnhöfe. In das Netz der ehemaligen DDR ist jahrelang wenig investiert worden, während es zugleich intensiv genutzt wurde – es steht kurz vor der Totalzerstörung.

Da die Bundesregierung nun aber die Bahn nicht selbst stillegen will, denn das sähe schlecht aus, will man sie privatisieren und regionaliseren. Das heißt: Andere sollen entweder bezahlen oder stillegen. Die haben freilich schon etwas gemerkt. Die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder erklärte im Dezember in Bonn, der vom Bund als „Kompensation“ für die Übernahme des Schienenpersonennahverkehrs geplante Betrag von 6,8 Milliarden DM pro Jahr reiche nicht aus. Daneben solle der Bund weiterhin die Kosten für das Schienennetz auch im Bahnnahverkehr tragen und vor allem erst mal Klarheit über die tatsächlichen Kosten der Regionalisierung schaffen. Das war klug, denn der Selbstbetrug der Bundesregierung ist hier mehr als offensichtlich: Klarheit wird hier natürlich nicht geschaffen, weil die Kosten für die Sanierung des Nahverkehrsnetzes der Bahn in keiner Haushaltsvorschau enthalten sind und den Bereich von 100 Milliarden DM wohl überschreiten dürften. Nun dringt die Bundesregierung auf Eile. Man will sich schnellstens mit der SPD über den weiteren Fortgang der Privatisierung und die nötige Grundgesetzänderung einigen. Es sei drängend, so die Argumentation, weil die Privatisierung sehr viel Geld spare, und man dies bei weiterem Aufschub sozusagen verschenke. Tatsache ist, daß es kurz vor der Bankrotterklärung fast alle eilig haben. Je mehr sich der Nebel über dem Wust der Privatisierungsvorschläge lichtet, um so klarer wird nämlich, daß allzuviel gar nicht gespart werden kann. Neben den Potentialen einer Regionalisierung, die, wenn sie tatsächlich mit einem fairen Finanzausgleich verbunden würde, wohl in der Tat durch angepaßtere Entscheidungen sinnvolle Einsparpotentiale eröffnen könnte, liegt das zweite Potential möglicher Ersparnis im Ende des typisch deutschen Beamten bei der Bahn. Mit dem Verlust des Beamtenstatus und der Abschaffung des Beamtenrechts gehen nun in der Tat weitere Einsparmöglichkeiten einher, die auch eine verbesserte Flexibilität bringen dürften. Allerdings greift dieses Moment erst nach und nach, weil ja die Bahnbeamten erst allmählich durch Fluktuation ersetzt werden. Die entsprechenden Finanznachteile sollen der „neuen, privaten Bahn“ aber nicht angerechnet werden; die bisherigen Beamten sollen der Bahn durch eine neu zu schaffende Gesellschaft zum „Normaltarif“ überlassen werden – wer nun wieder die Defizite dieser Gesellschaft zahlen soll und in welcher Haushaltsplanung die stehen? Na, wer wird denn so genau fragen!

Hauptsache: Die Pleite der bestehenden Verkehrspolitik wird nicht sichtbar. Es wird nämlich immer deutlicher, daß selbst ein so reiches Land wie die Bundesrepublik sich immer mehr Verkehrsaufwand und zwei miteinander konkurrierende, staatlich subventionierte Verkehrssysteme in Gestalt von Bahn und Automobil (zusätzlich kommt im Güterverkehr noch das Binnenschiff) nicht leisten kann. Hier eine neue Autobahn, die Kunden von der Bahn abzieht, dort eine neue Hochgeschwindigkeitslinie, die einen Teil wieder zurückholt, hier ein neuer Kanal, der dann kaum von Schiffen befahren wird, weil die Bahn nach Kanalbau einen Sondertarif anbietet, der dann wieder das Defizit erhöht. Von den Belastungen, die ein solches System durch tägliches Umbringen von Tieren, Menschen und Pflanzen und einer allgegenwärtigen Aggressivität so nebenbei erzeugt, war noch gar nicht die Rede. Hier sind wir im Verdrängen schon über Jahre geübt. Eine „neue Bahn“, die vor allem dort besser operieren müßte, wo die Umweltbelastungen am größten sind, nämlich im Nahverkehr, wäre sicher vorstellbar. Nach jahrelanger Vernachlässigung der Strecken wäre hier jedoch nicht ein Verschieben der Kosten auf Länder und Kommunen erforderlich, sondern eine einmalige Reparaturanstrengung. Diese kann nur von denen bezahlt werden, die jahrzehntelang bevorzugt wurden: eine deutliche Erhöhung der Mineralölsteuer ist unumgänglich. Dies erzeugt gleich zwei Effekte. Es wird nicht mehr ganz soviel Auto gefahren (im Gegensatz zur Ansicht von Bundesverkehrsminister Krause hat nämlich noch jede Kostenerhöhung des Benzins einen Einfluß auf die Autofahrer gehabt). Und wir brauchen weniger Straßen und können hier vielleicht am Ende noch Geld sparen. Damit wäre nicht nur das nötige Geld für eine Reparatur des Nahverkehrs da, sondern auch für seinen eigentlich erforderlichen Ausbau. Entsprechende Maßnahmen sind überfällig. Nur unter der Voraussetzung einer deutlichen Kostenumschichtung aus der Mineralölsteuer sind Privatisierung und Regionalisierung der Bahn sinnvoll, weil dann vielleicht wenigstens noch die Option zu einem Erhalt und späteren Ausbau der Bahn offengehalten werden kann. Alles andere ist ein „Schwarzer- Peter-Spiel“, bei dem nur eins entschieden werden soll: Wem in der Öffentlichkeit die Schuld an der deutlichen Reduzierung des Bahnsystems zugeschoben wird.