Mutter Taboris Angst und Mut

Ein nachdenklicher Kehraus im Sindelfinger Theaterkeller  ■ Von Christian Gampert

Auch Sindelfingen hat ein Theater, es hat bisher nur noch niemand gemerkt. Und damit das so bleibt, werden ihm demnächst auch die Gelder abgedreht: der „Theaterkeller“, direkt gegenüber von Tengelmann in einem Geschäftshaus gelegen, wird keine eigenen Produktionen mehr herausbringen, denn auch Deutschlands häßlichste wegen Daimler-Benz und IBM einstens an Gewerbesteuer reichste Stadt muß sparen – man investiert mittlerweile anderswo. Und, so fragt sich der im Sindelfinger Gemeinderat sitzende Betonkopf reflexartig in solcher Lage, was liegt da näher, als die Kultur zu rupfen, ein paar Jugendzentren zu schließen, überflüssige Schauspieler von der Bühne zu bannen?

Zum letzten Mal im Theaterkeller also. Die Leute vom Biracher „ZeltEnsemble“ haben die Abschiedsproduktion gemacht – wohl auch, um sich schon mal auf Kleintheaterdimensionen einzustellen; sie übernehmen im Sommer das Tübinger Zimmertheater. Und da brennende Asylantenheime derzeit nicht viel Spielraum bei der Wahl von Stücken lassen, haben sie sich für George Taboris „My Mothers Courage“ entschieden: Tabori erzählt in diesem Prosastück in gewohnt lakonischer Manier vom Überleben seiner Mutter, die auf dem Weg zum täglichen Rommé-Spiel deportiert wird, ihren nazistischen Verhaftern zunächst per Straßenbahn entkommt und, als der Zug nach Auschwitz schon abfahrbereit ist, durch freundliche Fügung in eine andere Richtung reisen darf – zurück in die Stadt, ins Kleinbürgerleben, zum Kartenspiel.

Aber nicht jeder Prosatext ist eine glückliche Vorlage für einen Theaterabend: Taboris behutsamer Witz vor makaberer Geschichtskulisse hat keinen wirklich bühnenwirksamen Aufbau – er tändelt mit dem Unglaublichen herum, ein wenig traurig, ein wenig ironisch; vor allem aber: er spricht fast nur in der dritten Person. Diese epische Distanzierung der handelnden Personen von sich selbst könnte natürlich der Inszenierungs-Schlüssel sein – aber ob man allein damit den ganzen Abend gestalten kann, das ist halt die Frage.

Otto Kukla, der in Abwandlung der sonstigen Rollenverteilung zwischen ihm und Crescentia Dünßer diesmal die Regie übernommen hatte, muß das Problematische der Vorlage auch gespürt haben. Er versucht dem Text mit allerlei technischen Tricks beizukommen, baut ein Video von einer regennassen, herbstlichen Autofahrt über bundesdeutsche Autobahnen als tragendes Element in die Handlung und kontrastiert das mit einer Märklin-Spielzeugeisenbahn, die ganz offensichtlich gen Auschwitz fährt. Kukla reißt den Text mit zig Überlappungen und Wiederholungen reflektierend auf, arbeitet mit diversen Tonspuren und einem Megaphon – und bei alledem ist mir nicht recht klargeworden, ob er von vorneherein einfach mal maschinelle Theatermittel ausprobieren, also ein wenig Piscator spielen wollte oder ob das nur sein Ausweg aus der Un-Theatralität des Textes war. Wie auch immer: das alles ist akribisch bis detailbesessen gemacht, das Technische der nazistischen Tötungsbürokratie wird zum Erzählmittel.

Und doch hat das alles etwas seltsam Gedämpftes, es hat nicht die wilde Energie früherer „ZET“- Produktionen. Auch die Personen entwickelt Kukla nur sehr langsam, vorsichtig; die stehen fast brechtisch neben sich und zeigen dem Publikum, wie man, ganz still, bescheiden und konzentriert, einen Menschen darstellt. Mit allen Übergängen: zu Beginn zündet Crescentia Dünßer eine Kerze an und liest sich selbst den Text vor, und ganz langsam wird dann eine ältere Frau, eine Tabori-Mutter daraus, kleines Schwarzes mit Judenstern, schnieker Hut mit getrockneten Blumen – eine naive, optimistische Psyche, die allen Verfolgungen und Demütigungen mit einem stoischen „Ja, so ist das Leben“-Seufzer begegnet.

Peter Schwietzke spielt die nazistischen Männergestalten mit virtuoser Häme: sie sind dumm und wissen nicht warum, und manchmal haben sie ein gutes Herz, aber nur ganz heimlich. Der Übergang vom pausbäckigen Bubi zum körpergepanzerten SS-Mann: vor und zurück, wie vor einem soziologischen Mikroskop. Solche Transformationen zeigt auch Crescentia Dünßer: eine Alte-Frauen-Psyche mit all den freundlichen Akzidienzien (jaja, dieses Handtaschenkramen), die flüstert und singt, betet und staunt und die dann plötzlich vor der Leere steht, Holocaust statt Rommé, und fast Angst vor dem Überleben hat. Denn im Zug nach Auschwitz fahren viele, den Weg zurück in die Stadt geht sie allein. Dieses Schuldbewußtsein der Überlebenden ist das geheime Thema der Aufführung. Wenn man die anderen „ZET“-Produktionen kennt, wirkt „My Mother's Courage“ wie eine nüchterne Bestandsaufnahme, ein Hin- und Herwenden von Stilmitteln. Die Inszenierung ist alles andere als spektakulär, fast ein wenig altmodisch in ihrer Stille. Vielleicht ist das ganz richtig so. Die Spektakel finden derzeit woanders statt, in Rostock und Mölln, und die Aufführung plädiert für deren Ende: für den nachdenklichen Tonfall.

Die Aufführung geht auf Tournee und wird erst im Januar und Februar wieder in Sindelfingen zu sehen sein.