„Solidar“ versus „Solidarität“

■ Mit Solidarität hat der Begriff „Solidarpakt“, mit dem wir unaufhörlich traktiert werden, erst mal nicht soviel zu tun

„Fraternité“ fiel aus dem Dreigestirn der Französischen Revolution zu Ende des 18.Jahrhunderts auf kargen deutschen Boden. Die „Brüderlichkeit“ der deutschen Jakobiner war den Gesellen und Tagelöhnern, die sich im Vormärz zu organisieren begannen, etwas zu weltumspannend, mithin zu mager. Sie hielten sich lieber an die „Solidarität“, auch eine Neuübersetzung aus dem Französischen.

Die Idee und ihr Begriff machten schnell Karriere in der deutschen Arbeiterbewegung. „Solidarität“ tat not – vom bestreikten Betrieb bis zum internationalen Klassenkampf. Bis heute hat der Begriff seine „rote“ Konnotation beibehalten. Er rettete sich als „Grundwert“ ins Godesberger und Berliner Programm der SPD und überlebte in der DDR als plakative Losung ebenso wie im bürokratisch betriebenen Internationalismus („Solidaritätsbeitrag“) und in der Sorge um die lieben Alten („Volkssolidarität“).

„Solidar“ hat eine gänzlich andere Herkunft. Bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Deutschen Reich wurde damit das Rechtsinstitut gekennzeichnet, aufgrund dessen jeder einzelne einer Gruppe von Schuldnern in voller Höhe haftete. Ab 1900 wurde der Begriff, wie es sich gehörte, eingedeutscht. Er hieß jetzt Gesamtschuldner (resp. Gläubiger). Nur die Schweizer hielten zäh an der ursprünglichen gemeinrechtlichen Bezeichnung fest.

Nicht gegenseitige Hilfe, nur Einsicht ins höhere Ganze

Wo kommt der Begriff Solidarpakt her, mit dem wir in letzter Zeit unaufhörlich traktiert werden? Von der „Solidarität“ offensichtlich nicht, aber auch nicht aus dem Recht gemeinsamer Haftung. Es gibt eine dritte Quelle, und die ist, wie sollte es in Deutschland anders sein, strikt ideologisch. Wir betreten den Boden der katholischen Soziallehre.

Mit dem Erstarken der sozialistischen Arbeiterbewegung sah sich die Kirche eingeklemmt zwischen zwei Übeln: dem individualistischen Liberalismus, der noch dazu in einer Reihe europäischer Staaten im antiklerikalen Gewand auftrat, und dem kollektivistischen Sozialismus, der nicht nur allgemein gottlos war, sondern darüber hinaus einige geheiligte Güter wie das Eigentum und die Familie anzutasten beabsichtigte.

Die Kirche suchte nach einer Doktrin der Abgrenzung und fand sie in einer organischen Auffassung der Gesellschaft, die die Individuen, seien es Kapitalisten, seien es Arbeiter, mit dem „Ganzen“ zur Erreichung des bonum commune zusammenbinden wollte. Eine Ausprägung dieser Ideologie war der „Solidarismus“, der in der Person des Jesuitenpaters Oswald Nell-Bräuning bestimmenden Einfluß auf den Arbeitnehmer-Flügel der christdemokratischen Partei Deutschlands gewinnen sollte; die Idee der klassenübergreifenden „Solidargemeinschaft“ verschmolz mit Ludwig Erhards Vorstellungen von der „Sozialpartnerschaft“ zur herrschenden Ideologie der Nachkriegszeit.

Aus diesem begrifflichen „Vorlauf“ ergab sich zwangsläufig, daß nach der Vereinigung die Regierung der Bundesrepublik Deutschland nicht an die Solidarität der Westdeutschen gegenüber den Ostdeutschen appellierte, sondern den Abschluß eines Solidarpakts betrieb. Es geht eben nicht um freiwillige gegenseitige Hilfe und Unterstützung, sondern um Einsicht ins höhere Ganze, dem wir stets unterworfen sind. Christian Semler