Ein Pakt gegen die ungeliebte Minderheit

■ Mit dem so großspurig angekündigten "Solidarpakt" hatten Kanzler Kohl und Kassenwart Waigel nie Fordeurngen an die eigene Klientel im Sinn. Mit dem Sparpakt schnürten sie lediglich eine Zwangsjacke

Die Einsicht war von kurzer Dauer. Als sich im Herbst das sehnlich herbeigewünschte Wirtschaftswunder im Osten noch immer nicht einfinden wollte und der Unmut über die ungerecht verteilten Lasten der deutschen Einheit wuchs, drängte der Kanzler zum Solidarpakt. Alle, Regierung und Opposition, Arbeitgeber und Gewerkschaften, so seine Eingebung, sollten sich an einen Tisch setzen, um das Maß ihrer Ansprüche an den nicht mehr vorhandenen Spielraum des Verteilbaren anzupassen. Mit den neuen Milliarden- Spritzen, per Nachtragshaushalt eilig durch das Parlament gepeitscht, wollte Helmut Kohl dann den Aufschwung Ost erzwingen. Seit gestern ist nun klar, was dabei herausgekommen ist: eine weitere Krisenoperation für die desaströse Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik der liberalkonservativen Regierung. In die Bonner Chronik jedenfalls wird der von Kohl und Kassenwart Waigel seit Monaten großspurig angekündigte Solidarpakt als weiterer Fehlschlag eingehen.

Dabei waren die Voraussetzungen gar nicht schlecht, die gesellschaftlichen Gruppen, allen voran die Gewerkschaften, korporativistisch in eine neue Krisenstrategie einzubinden. „Helmut Kohl kommt auf den Pfad der Vernunft“, lobte gar der SPD-Wirtschaftsexperte Wolfgang Roth den Kanzler. Die Gewerkschaften hatten Kohl vor Weihnachten die Zusage abgerungen, mit staatlichen Eingriffen den vollständigen Zusammenbruch der Ostindustrie zu verhindern, und im Gegenzug ihre Zurückhaltung bei den Tarifverhandlungen versichert. Doch statt den längst fälligen Kassensturz vorzunehmen und gemeinsam mit den Sozialdemokraten einen Wurf zu landen, verhedderten sich die Koalitionäre in blindem Aktionismus, Taktierereien und Unentschlossenheit. Dabei hätten die Wiederholungstäter trotz gigantischer Schuldengebirge durchaus Spielraum für eine Haushaltsoperation in der Größenordnung von 20 Milliarden Mark besessen: noch immer schluckt der Rüstungsetat jährlich über 50 Milliarden Mark, ganz zu schweigen von den 136 Milliarden, die Bauern und Industrie im Jahr an Subventionen einstreichen dürfen.

Eine Strategie, die Kosten weiterzureichen

Eine solche Prioritätensetzung ist aber die Sache dieser Regierung nicht. Dennoch hat die neue Sparorgie durchaus System: zum Verschiebebahnhof der Milliarden wurde, im Rückgriff auf neoliberale Krisenstrategien und getreu der zehnjährigen Umverteilungspolitik von unten nach oben, nicht zufällig das Sozialsystem auserkoren. Schließlich wehren sich die Opfer nicht, niemand vertritt ihre Interessen, auf dem Parkett der offiziösen Bonner Politik spielen sie ohnhin nur die Rolle einer ungeliebten Minderheit. Aus Rücksichtnahme auf ihr eigenes Klientel haben weder Union noch FDP ernsthaft erwogen, einen Beitrag von den Besserverdienenden, Freiberuflern oder Beamten einzufordern, geschweige denn deren Steuerprivilegien im Kern anzutasten. Statt dessen schlossen sie einen Pakt mit sich selbst – mit dem Sparpaket hat das Kartell der organisierten Besitzstände weiter an der Zwangsjacke für den Rest der Gesellschaft geschustert. So blieb die Suche nach dem Solidarpakt letztlich nur eine Suche nach neuen Strategien, um die Kosten wie bei einem Schwarzer-Peter-Spiel weiterzureichen und damit weiter Teile der Gesellschaft auszugrenzen.

Mit dem geplatzten Solidarpakt dürfte die Regierung wohl auch ihre letzte Chance vergeigt haben, einen überfälligen Kurswechsel nicht nur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik vorzunehmen. Bisher haben die Arbeitnehmer den weit größten Teil der Einheitskosten getragen. Diese Schieflage, zuletzt sogar vom konservativen Sachverständigenrat erkannt, spitzt den Verteilungskampf zwischen sozial Schwachen und Vielverdienern weiter zu. Die Sparliste belegt aber auch, wie wenig ernst in Bonn jener Konflikt genommen wird, der die Deutschen in zwei Lager spaltet: die Ostdeutschen, die mehr Geld fordern und die verwöhnten Westler, die nicht soviel abgeben wollen. Schon viel früher hätte die politische Klasse, die Sozialdemokraten nicht ausgenommen, klare Worte für das finden müssen, was gesellschaftspolitisch im vereinigten Deutschland ansteht: nämlich das Teilen auf allen Ebenen. Die ökonomische Entwicklung hat die soziale und regionale Gesellschaftsspaltung, die in Westdeutschland bereits in den 70er und 80er Jahren einsetzte, nach der Vereinigung auf den Osten ausgedehnt – unter der jetzt einsetzenden Rezession droht sich diese Spaltung dramatisch zu verschärfen.

Es ist jedoch eine Binsenweisheit, daß sich gerade die Besitzenden immer von den Besitzlosen bedroht fühlen. Und je mehr Besitz zu verteidigen ist, desto größer scheint der Haß zu werden. Schon jetzt freut sich mancher Steuerzahler, wenn Asylanten, Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslose kurzgehalten werden.

Indem die politische Klasse den Diskurs der Straße aufnimmt und etwa dem „Wildwuchs“ bei den Sozialleistungen das Wort redet, baut sie eine gefährliche Brücke zwischen den wirtschaftspolitischen Krisenstrategien und rassistischen Exzessen. Doch Ellenbogenmentalität, materielle Wohlstandssicherung um jeden Preis und politische Machterhaltung ohne jegliche Rücksicht scheint sich die neue Koalition der Privilegienverteidiger zum Prinzip gemacht zu haben. Erwin Single