Straßen als tödlicher Spielraum

■ Verkehrsunfallbilanz: 1992 kamen 18 Kinder ums Leben / Unfälle geschehen meist nachmittags in der Freizeit / BUND macht Verkehrssenator verantwortlich

Berlin. 18 Kinder haben im vergangenen Jahr auf den Straßen der Stadt ihr Leben verloren – nach Meinung der Polizei, die die Unfälle inzwischen ausgewertet hat, ein trauriger Rekord. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) kündigte aus diesem Anlaß für Freitag nachmittag die Enthüllung eines Gedenksteins direkt vor dem Schöneberger Amtssitz des Verkehrssenators An der Urania an. Sozusagen vor der Nase des Senators sollte außerdem für jedes der toten Kinder ein Kreuz aufgestellt werden und eine Blaskapelle für trauermusik sorgen. Schließlich ist Senator Haase nach Überzeugung des Umweltverbandes politisch hauptverantwortlich für das „fortgesetzte Morden“ auf unseren Straßen. So lehne Haase die flächendeckende Einführung von Tempo 30 auch auf Hauptverkehrsstraßen ab, obwohl alle der Kinder auf den übergordneten Verkehrsschneisen ums Leben gekommen seien. Es wird auf Studien verwiesen, nach denen sich die Zahl der tödlichen Unfälle, die zumeist gerade auf Hauptstraßen passieren, durch die flächendeckende Verkehrsberuhigung wie in Moabit drastisch reduzieren ließe. Der BUND vermißt des weiteren eine Initiative Berlins im Bundesrat, um die Bußgelder für Verkehrsrowdys drastisch zu erhöhen.

Besonders kritisiert der Umweltverband, daß von seiten der Polizei zuwenig gegen die Raserei auf den überbreiten Straßen getan werde. Für Autofahrer seien die Straßen mittlerweile „offensichtlich zum rechtsfreien Raum“ geworden, erklärte der Berliner BUND-Vorsitzende Klaus Polzin. Beleg: In jedem Monat werde „millionenfach die zulässige Höchstgeschwindigkeit im Innerortsverkehr überschritten, während die Zahl der von der Polizei registrierten Temposünder im Promillebereich“ liege.

Nach den Worten Polzins verlangt der BUND grundsätzlich eine radikale Wende zu einer kinderfreundlichen Verkehrspolitik. Sämtliche Bürgersteige und Plätze müßten zum Beispiel „von Autos befreit“ werden, „um Platz für das ungefährdete Spielen von Kindern zu schaffen“. Kinder, so Polzin, hätten ein „Recht auf Mobilität und Spontanietät“; die Verkehrspolitik habe darauf Rücksicht zu nehmen. „Die Straße als Lebensraum ist für Autos zu schade“, betonte der BUND-Vorsitzende.

Daß viele Kinder derzeit schon mangels anderer Möglichkeiten gezwungenermaßen die Straßen als (potentiell tödlichen) Spielraum benutzen, ergibt die polizeiliche Unfallauswertung. Überwiegend kamen die Kinder innerhalb der nachmittäglichen Spielzeiten zu Tode, sagte Polizeidirektor Klaus Krüger vom Referat für Grundsatzangelegenheiten des Straßenverkehrs. „Keiner der Unfälle hat sich während der Schulzeit ereignet, das ist für mich phänomenal.“ Fünf der 14 Unfälle, die beim versuchten Überqueren von Straßen geschahen, resultierten Krüger zufolge aus der sogenannten „unangepaßten Geschwindigkeit“ der Autofahrer. Auf deutsch: Die Raser hätten das Kind erkennen und sich ihm dementsprechend mit verminderter Geschwindgkeit und erhöhter Bremsbereitschaft nähern müssen. Insgesamt siebenmal kamen im letzten Jahr laut Polizeistatistik Kinder allein beim „unachtsamen Überschreiten der Fahrbahn“ ums Leben. Um derartigem Fehlverhalten vorzubeugen, sollten Eltern mit ihren Kindern immer wieder das richtige Verhalten im Straßenverkehr üben und ihnen wirklich deutlich machen, welche Gefahren auf sie lauerten, riet Krüger. Den Vorwurf, die Ordnungshüter unternähmen zuwenig gegen Raser, wies er zurück. Nach seinen Angaben gab es letztes Jahr im Vergleich zu 1991 58 Prozent mehr Verfolgungsverfahren wegen überhöhter Geschwindigkeiten gegen Autofahrer.

Unterdes wurde im neuen Jahr schon wieder ein Kind Opfer des Straßenverkehrs. Auf dem Brunsbütteler Damm geriet der achtjährige Holger B. unter einen Lastwagen. Der Junge soll unglücklich ausgerutscht sein. Thomas Knauf